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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Tagen.«
    »Lieber Himmel, was ist passiert?«
    Seine Besorgnis ließ sie ein wenig auftauen. »Sie wurde angefahren. Vergangenen Mittwoch, glaube ich. Aber ich weiß wirklich nicht, ob …«
    »Mein Gott«, unterbrach er sie, »ich hab sie am Dienstagmorgen noch getroffen.« Er hoffte, dass diese Lüge nicht sofort aufgedeckt wurde.
    »Auf der Pressekonferenz im Gewandhaus?«, fragte die Stimme.
    »Genau«, sagte er und hätte sich vor Erleichterung fast verschluckt.
    »Dann sind Sie ein Kollege.« Eine Feststellung. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wissen Sie, Simone ging über eine grüne Fußgängerampel, als plötzlich ein Autofahrer Gas gab und sie streifte. Nein, falsch, nicht streifte. Er hat sie mit voller Wucht mitgenommen. Sie ist bis auf die andere Straßenseite geflogen. Schrecklich.«
    »Lieber Himmel«, sagte er, und sein Entsetzen war nicht gespielt. »Wie geht es ihr jetzt?«
    »Nicht gut, glaube ich. Aber ich war noch nicht selbst im Krankenhaus. Hier läuft alles drunter und drüber, wissen Sie …«
    »Klar. In welcher Klinik liegt sie? Ich würde gerne selbst mal vorbeifahren.«
    Er notierte den Namen auf seinem Notizzettel.
    »Bestellen Sie ihr alles Gute, ja?«, sagte die junge Frau.
    »Sicher«, sagte er und verabschiedete sich. Mit einem lautlosen Stöhnen sank er zurück in den Sessel. Es war alles wahr. Michaelis hatte sich den Namen der Journalistin besorgt, um sie wegen ihres Artikels und der darin vertretenen Theorien beseitigen zu lassen. Das war der einzig logische Schluss.
    Er stand auf und spürte, wie seine Knie zitterten. Er trat hinaus auf den Flur und sah sich suchend nach Viktor um. Der Maler war nirgends zu sehen. Er nahm einen unbeschriebenen Zettel aus seiner Tasche und hinterließ ihm eine Botschaft und seinen Dank. Dann wandte er sich zur Tür und trat ins Freie.
    Beim Einsteigen in seinen Wagen glaubte er aus den Augenwinkeln zu sehen, wie sich einer der schweren Samtvorhänge im zweiten Stock bewegte. Als er sich umdrehte und nach dem Gesicht des Malers Ausschau hielt, sah er in den Scheiben nichts als die Spiegelung der treibenden Wolken.
    Das Krankenhaus lag am Ostrand der Stadt, trotzdem nahm Carsten die erste Autobahnabfahrt und landete im Westen Leipzigs. Von dort aus fuhr er direkt zum Hauptbahnhof. Er fädelte sich in die Abbiegespur zur Güterabfertigung ein, stellte den Wagen am Hintereingang des riesigen Bahnhofsgebäudes ab und betrat die Halle. Er glaubte immer noch nicht wirklich, dass jemand ihm folgte. Trotzdem schadete es nicht, vorsichtig zu sein.
    Die Bahnhofshalle war voller Menschen, ein wogendes Auf und Ab von Köpfen und Koffern und Taschen. Betont ruhig ließ er sich vom Strom der Reisenden zum Haupteingang tragen. Das Gewühl spuckte ihn hinaus auf den Vorplatz. Er würde sich beeilen müssen. Mit schnellen Schritten lief er hinüber zum Taxistand, sprang in den ersten Wagen und nannte den Namen des Krankenhauses. Mit dem Versprechen eines großzügigen Trinkgeldes trieb er den Fahrer zur Eile. Erfreut über die Abwechslung trat der junge Mann aufs Gas.
    Michaelis würde seine Verfolger – immer unter der Voraussetzung, es gab welche – in Tiefental stationiert haben. Demnach waren sie ihm von dort nach Leipzig gefolgt. Sein Halt am Güterbahnhof und der Weg durch die Halle sollten sie aus ihrem Wagen locken. Ehe er mit dem Taxi verschwunden war, würden sie nicht zurück zum Auto laufen können. Wenn sie ihn nicht verlieren wollten, war ihre einzige Möglichkeit, ebenfalls ein Taxi zu nehmen. Würde er auf seinem weiteren Weg eines hinter sich entdecken, hätte er zumindest die Gewissheit, dass sie seine Spur verfolgten.
    Aber es gab kein zweites Taxi und keine Verfolgungsjagd. Ungehindert erreichten sie das Krankenhaus, und auch nachdem er ausgestiegen war und den Fahrer bezahlt hatte, traf kein weiterer Wagen ein. Das konnte bedeuten, dass sie ihn verloren hatten, oder auch, dass es sie niemals gegeben hatte.
    Er betrat das Gebäude und erkundigte sich nach dem Zimmer von Simone Gregor. Er habe großes Glück, meinte der Junge hinter der Rezeption, sie sei erst heute Morgen von der Intensivstation überstellt worden. Er nannte Carsten Nummer und Etage und deutete höflich auf die Aufzüge am anderen Ende der Eingangshalle.
    Während Carsten die Halle durchquerte, erinnerte er sich an das, was ihm die junge Frau am Telefon über den Unfall erzählt hatte. Irgendwer hatte kaltblütig versucht, die Journalistin zu ermorden, das war

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