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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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offensichtlich.
    Er war so in Gedanken versunken, dass er um sich herum nichts und niemanden wahrnahm. Auch nicht die rotmähnige Schönheit, deren Blicke ihn verfolgten, bis sich die Lifttüren hinter ihm schlossen.
    Nadine zog unauffällig ihren Abzug des Fotos hervor, das jeden von ihnen bei der Ankunft im Hotel in einem Umschlag auf dem Bett erwartet hatte. Ein Nadeldrucker hatte einen Namen in seine Rückseite gestanzt. Carsten Worthmann.
    Sie war sicher, dass er es war. Sie hatte ihn niemals vorher gesehen, aber die Aufnahme war deutlich, unverkennbar aktuell, und er trug sogar denselben Mantel. Das Bild zeigte ihn vom Kopf bis zur Taille vor dem verschwommenen Hintergrund alter Häuser. Er blickte nicht in die Kamera. Offenbar hatte er nicht bemerkt, dass man ihn fotografierte.
    Nawatzki musste Grund zu der Annahme haben, dass Worthmann recht bald eine tragende Rolle in dieser Angelegenheit spielen würde. Sie vermutete, dass sein Name früher oder später auf der Liste ihrer Entfernungen auftauchen würde.
    Dass sie ihn entdeckte, war purer Zufall. Nachdem der Anschlag auf die Journalistin so kläglich fehlgeschlagen war – Rochus hatte den Wagen gefahren, und keinem gönnte sie diesen Misserfolg mehr –, hatte Niklas angeordnet, im Krankenhaus Stellung zu beziehen. Bislang war noch keine Order gegeben worden, den Anschlag zu wiederholen. Es genügte möglicherweise, die Frau langfristig außer Gefecht zu setzen.
    Nadine zögerte einen Augenblick. Vielleicht war Worthmanns Besuch in der Klinik geplant; vielleicht sollte er in diesem Augenblick hier sein.
    Trotzdem. Sie musste sichergehen.
    Sie stand auf, ging hinüber zum Kartentelefon am Eingang und wählte die Nummer von Niklas' Hotelzimmer.
    Die Schwester beargwöhnte ihn misstrauisch, als er sie nach dem Weg zu Simone Gregors Zimmer fragte. Sie war über fünfzig, grauhaarig und trug jenen verbiesterten Ausdruck im Gesicht, den ihr Beruf nach Jahrzehnten des Laufens und Pflegens und Fütterns oft mit sich brachte. Nachdem er sich im Gewirr der verwinkelten Korridore hoffnungslos verirrt hatte, war ihm keine andere Wahl geblieben, als sie um Hilfe zu bitten.
    »Sind Sie ein Verwandter?«, fragte sie.
    »Ein Freund«, erwiderte er. Als er sah, wie sich ihr Blick verfinsterte, fügte er hastig hinzu: »Ein guter Freund.«
    »Die Besuchszeit endet in wenigen Minuten. Ich glaube nicht, dass ich Sie vorlassen kann.«
    Hexe, dachte er. »Nur ganz kurz«, bat er mit traurigem Blick. Erst die Aktion am Bahnhof, nun drittklassiges Schmierentheater. Carstens Nerven lagen blank.
    Sie schien noch immer die Dringlichkeit seines Besuches abzuschätzen. »Stehen Sie Frau Gregor sehr nahe?«
    »Wir sind zusammen aufgewachsen«, log er und schenkte ihr sein herzlichstes Lächeln. »Eine Sandkastenfreundschaft. Sie kennen so etwas doch, oder? Wir haben uns nie aus den Augen verloren. Glauben Sie mir, Simone ist ein bezauberndes Mädchen. Wir wollen heiraten.« Lieber Gott im Himmel, mach, dass sie sich damit zufrieden gibt.
    Sie rümpfte empört die Nase. »Frau Gregor ist in meinem Alter«, stellte sie fest, als hätte er um ihre Hand angehalten.
    Er schluckte und sagte eilig: »Wir sehen das nicht so eng. Machen Sie sich keine Sorgen.« Und, nach einer wohldosierten Pause: »Darf ich nun zu ihr oder nicht?«
    Die Schwester runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht recht …« Sie sah auf ihre Uhr. »Sie haben noch sechs Minuten. Danach müssen Sie gehen.«
    »Versprochen.«
    Sie führte ihn um mehrere Ecken bis zu einer Zimmertür am Ende des Korridors. Langsam drückte sie die Klinke herunter und warf vorsorglich einen Blick ins Zimmer. »Sie schläft«, sagte sie, wieder an ihn gewandt, und die plötzliche Sanftmut in ihrer Stimme überraschte ihn. Wahrscheinlich brachte auch das ihr Job mit sich. »Gehen Sie hinein, aber wecken Sie sie nicht. Sie braucht in ihrer Verfassung jede Minute Schlaf, die sie kriegen kann.«
    Carsten trat an ihr vorbei ins Zimmer. Die Schwester schloss von außen die Tür. Der bandagierte Körper auf dem Bett hätte zu allem und jedem gehören können: Frau, Mann oder gar Kind. Mehr als die Tatsache, dass es sich um einen Menschen handelte, war nicht zu erkennen. Er fragte sich, warum man sie von der Intensivstation gebracht hatte. Aber das war eine Entscheidung von Ärzten, die ihr Handwerk hoffentlich verstanden. Er setzte sich neben dem Bett auf einen Besucherstuhl und horchte auf den rasselnden Atem der Frau. Kanülen steckten in ihren

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