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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hatte, würde es leicht haben, die Schuld später auf ihn abzuwälzen. Niklas warf einen Blick in den erleuchteten Haupteingang, schlich dann daran vorbei und näherte sich der Tür des Ambulanztraktes. Das Krankenhaus war groß, ebenso wie sein Einzugsbereich, und die Chancen standen gut, dass er hier eine Reihe wartender Patienten antreffen würde. Selbst wenige Menschen würden ihm das unauffällige Betreten der Anlage erleichtern.
    Er hatte Glück. Im Wartesaal der Ambulanz befand sich knapp ein Dutzend Männer und Frauen. Nicht alle waren krank oder verletzt; etwa die Hälfte bestand aus Begleitern, die beruhigend auf ihre Freunde oder Verwandten einredeten. Niklas schob sich in den Raum, ohne dass irgendjemand ihm Beachtung schenkte. Alle hatten genug mit sich selbst oder ihren Patienten zu tun. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes führte ein offener Durchgang hinaus auf einen Korridor.
    Es gelang ihm, den Wartesaal unbemerkt zu durchqueren und hinaus auf den Gang zu treten. Von hier aus war es nicht mehr schwer. In einer unbeobachteten Ecke zog er seinen Mantel aus. Darunter kam weiße Arztkleidung zum Vorschein. Den Mantel ließ er hinter einem Karton liegen.
    Nadine hatte Etage und Zimmernummer in Erfahrung gebracht. Auch war sie bereits gestern alle möglichen Fluchtwege abgeschritten, in der Gewissheit, dass sie früher oder später hier im Krankenhaus würden zuschlagen müssen. Ihr Wissen kam ihm jetzt zugute. Sie hatte einen Plan des Stockwerks gezeichnet, den er sich eingeprägt hatte. Er brauchte keine drei Minuten, um das Zimmer zu finden.
    Die Tür war unbewacht, der Korridor menschenleer. Beste Voraussetzungen. Niklas schob sich ins Zimmer und drückte die Tür hinter sich ins Schloss. Im Inneren war es dunkel, nur die Digitalanzeigen elektronischer Geräte glommen in gespenstischem Grün.
    Er trat ans Bett und betrachtete sein Opfer. Alles, was er von der Frau erkennen konnte, waren ihre Augen. Sie waren geschlossen. Simone Gregor schlief.
    Niklas zog seine Waffe unter dem weißen Kittel hervor. Auf der Mündung steckte ein fast unterarmlanger Schalldämpfer. Sehr unhandlich, sehr unzuverlässig, trotzdem die einzige Möglichkeit, die Pistole bei Nacht in einer schlafenden Klinik abzufeuern. Die Entfernung musste lautlos geschehen, sonst lief er Gefahr, dass man ihm die Flucht abschnitt. In einer so großen Anlage voller Menschen war selbst der Versuch, sich den Weg freizuschießen, zum Scheitern verurteilt.
    Er setzte die Waffe unter das bandagierte Kinn der Frau und drückte zweimal ab. Eine dritte Kugel feuerte er in ihr Herz. Die Schüsse waren fast lautlos. Nasse, rote Flecken erblühten auf den weißen Verbänden. Die beiden ersten Schüsse hatten einen Teil ihres Hinterkopfes gesprengt.
    Niklas steckte die Waffe wieder ein und verließ vorsichtig das Zimmer. Niemand begegnete ihm, als er sich mit wehendem Kittel auf den Rückweg zur Ambulanz machte.
    Ein Arzt auf nächtlicher Visite.
    Der winzige Wald lag nicht weit entfernt von der Bahnlinie Leipzig–Chemnitz, rund fünfunddreißig Kilometer südöstlich der Stadt. Alexander, der unsichtbare Fünfte des Kommandos, erreichte es in einem unscheinbaren Wartburg gegen zwei Uhr nachts. Hinter ihm lag eine Odyssee über mondbeschienene Feldwege, die aussahen, als sei seit Jahren niemand mehr auf ihnen gefahren. Im Umkreis von eineinhalb Kilometern gab es, abgesehen von zwei leerstehenden Scheunen, keine menschliche Behausung. Der Ort war ideal. Fast tat es ihm leid, dass er ihn nur ein einziges Mal benutzen konnte. Dabei war dies bereits sein zweiter Besuch innerhalb weniger Tage. So etwas hatte es vorher nicht gegeben.
    Ein Wald war die Baumgruppe nur von außen. Tatsächlich bildeten die Bäume einen schmalen, ungemein dichten Ring, der in seinem Zentrum einen längst vergessenen Bombentrichter umschloss. Während des Zweiten Weltkrieges hatte eine Granate diesen Krater in die Felder gerissen, nicht allzu tief, doch mit einem Durchmesser von acht oder neun Metern. In den vergangenen Jahrzehnten hatte sich Wasser in der Grube gesammelt und sie in einen brackigen Tümpel verwandelt. Weiden wuchsen an seinem Rand und ließen ihre Zweige wie dürre Hexenfinger hinab auf die Oberfläche baumeln. Schilf und braune Gräser stachen aus dem Wasser, und längst hatten die umliegenden Büsche ein wirres Netz aus Ästen über dem See gewoben. Alexander hätte sich keinen besseren Ort zur Beseitigung einer Leiche wünschen können.
    Sein Problem

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