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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihrer Stirn arbeitete. Sie saß regungslos da, ihre Augen folgten jeder seiner Bewegungen, als er vorsichtig ihre Hand ergriff. Plötzlich waren Tränen in ihren Augenwinkeln.
    »Wusstest du, dass Sebastian und ich eine Weile lang zusammen waren?«, fragte sie plötzlich.
    »Ich hab's mir gedacht.«
    »Wir kannten uns schon, bevor Michaelis uns einstellte«, fuhr sie fort. »Er kellnerte damals im Burggewölbe, oben im Wald. Wir sahen uns dort regelmäßig, grüßten uns, und das war's. Er hatte andere Freunde als ich, Freunde, mit denen er eine Menge verbotener Dinge tat. Nichts, was man heute kriminell nennen würde, aber damals, vor der Wende, war es verboten. Sie trafen sich regelmäßig in leerstehenden Häusern und in den alten Kellern. Deshalb kannte er sich dort so gut aus. Jedenfalls gab es wenig, was wir gemeinsam hatten. Dachte ich zumindest.« Sie trank einen Schluck Mineralwasser und lehnte sich weiter vor. »Schließlich kamen wir doch zusammen. Auf irgendeiner Party, wir waren beide schrecklich betrunken. Na ja, wie so etwas halt läuft. Und plötzlich habe ich begriffen, als was Sebastian sich wirklich verstand. Er war nicht der Spinner, den wir alle in ihm sahen, ein Junge, der in verbotenen Kellern Verschwörer spielt. Er sah sich wirklich als eine Art Rebell. Völlig losgelöst von diesen romantischen Vorstellungen, wie man sie aus alten Mantel-und-Degen-Filmen kennt. Einfach nur jemand, der strikt nein sagte zu dem, was um ihn herum geschah. Ich habe ihn sehr bewundert dafür, zumindest heimlich. Nach außen hin habe ich ihn weiter für verrückt erklärt und versucht, ihn zu verändern. Schließlich war es so weit, dass wir heiraten wollten. Nicht weil wir es wirklich wollten, sondern wegen einer gemeinsamen Wohnung. Die bekamen nur Ehepaare. Ich wollte fort von meinen Eltern, und er verlor langsam die Lust auf feuchte Keller und Ruinen.«
    Carsten hörte schweigend zu und beobachtete gespannt ihr Gesicht.
    »Dann kam die Wende«, sagte sie. »Plötzlich war es vorbei. Mit einem Mal konnte jeder eine eigene Wohnung nehmen. Ich war zufrieden und er scheinbar auch. Von einem Tag auf den anderen war alles anders. In einem Kaff wie Tiefental verliert man sich nicht aus den Augen, aber wir sahen uns nicht mehr so oft, schliefen nicht mehr miteinander. Selbst unsere Anstellungen bei der Zeitung liefen völlig unabhängig. Wir waren beide ziemlich überrascht, als wir uns im Büro plötzlich gegenüberstanden. Und ich war froh, wirklich froh, dass ich ihn um mich hatte. Liebe war das nicht mehr, war es wahrscheinlich auch vorher nie gewesen, aber dafür eine dickere Freundschaft, als wir sie jemals zuvor hatten. Es war einfach – schön.«
    Er drückte ihre Hand fester, spürte die Wärme ihrer Finger. Sie lächelte, obwohl Tränen über ihre Wangen rollten.
    »Jetzt ist er tot«, sagte sie. »Und ich will so etwas nicht noch einmal erleben. Ich will nicht noch einen Freund verlieren. Verstehst du, was ich meine? Ich will nicht zur Polizei. Ich will nicht, dass dir oder mir irgendetwas zustößt.« Plötzlich zog sie ihre Hand zurück. »Begreifst du das, Carsten Worthmann?«
    Er nickte stumm. Vielleicht hatte sie recht. Nach einer ganzen Weile sagte er: »Wir werden uns was einfallen lassen müssen.«
    »Wie meinst du das?«, fragte sie und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
    Er lächelte; es sollte fröhlich aussehen. Der Versuch ging gründlich daneben. »Sie werden sich wundern, warum wir ständig zusammen sind. Wir gehen essen, treffen uns am Abend. Irgendwann werden sie aufwachen und sich überlegen, dass wir nicht nur über das Wetter und den Wein sprechen. Im Augenblick bin ich noch derjenige, auf den sie es abgesehen haben. Und ich will, dass das so bleibt. Sie sollen gar nicht erst auf die Idee kommen, dass du etwas von Sebastians Artikeln und dieser Journalistin aus Leipzig weißt.«
    Sie sah ihn aus großen Augen an. »Du willst ihnen einen überzeugenden Grund für unsere Treffen geben? Einen, den sie für harmlos halten?«
    Er nickte.
    Jetzt war sie es, die lächelte. »Ich schätze, mir fällt einer ein.« Sie trank einen Schluck und rief nach dem Kellner.
    Draußen auf der Straße blieb sie nach wenigen Schritten stehen. Drückte sich an seinen Körper. Und küsste ihn.
    Sehr lange, sehr überzeugend.

Kapitel 4
    Als Carsten am nächsten Morgen in die Redaktion kam, saß Nina bereits an ihrem Schreibtisch. Sie wirkte ruhig und ausgeschlafen. Die Anspannung, unter der sie zweifellos

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