Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
war ein anderes. Seine Vorgesetzten wollten, dass er den Körper zurückholte. Auch das hatte es niemals zuvor gegeben. Für gewöhnlich ließ er Leichen auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Oder aber er deponierte sie absichtlich so, dass man sie innerhalb kürzester Zeit finden würde. Nur eine einzige Leiche hatte er während der vergangenen vier Monate so verschwinden lassen, dass keiner sie je entdeckt hätte. Und ausgerechnet diese wollten sie zurückhaben.
    Aber Alexander war routiniert in den Ausführungen von Befehlen. Nichts lag ihm ferner, als ihren Sinn zu hinterfragen. Das gehörte nicht zu seinen Aufgaben.
    Er packte den Taucheranzug und ein Paar wasserdichter Gummihandschuhe aus, streifte beides über und watete mit angehaltenem Atem in das sumpfige Wasser des Tümpels. Seine Füße versanken knöcheltief im Schlamm, jeder einzelne Schritt zehrte an seinen Kraftreserven. Er stank nach Moder und Schwefel. Nach drei Metern beugte er sich vor, streckte beide Arme tief ins Wasser und begann blind durch die eisige Dunkelheit zu tasten. Nach einer Weile packten seine Hände etwas, das ein Arm sein mochte. Alexander zog erst sachte, dann fester. Die Leiche hatte sich voll Wasser gesogen.
    Behutsam ging er rückwärts zum Ufer, den aufgequollenen Körper im Schlepptau. Nach einigen Schritten spürte er festen Boden unter den Füßen. Er zog die Leiche aus dem Wasser, schleifte sie an einem aufgeblähten Arm durchs Dickicht und hievte sie auf die Plastikplane im offenen Kofferraum. An den geschwollenen Gliedern des Toten hatten sich Schnecken und Egel festgesetzt wie bizarre Geschwüre. Er schloss den Kofferraumdeckel, stopfte Handschuhe und Gummianzug in eine Tüte und warf sie auf die Rückbank. Anschließend setzte er sich hinters Steuer und startete den Motor.
    Alexander nahm Sven Kirchhoff mit auf eine Reise in den Harz.
    Carsten hatte bereits früher als Polizeireporter gearbeitet, daher war er es, der nach Sebastians Tod die täglichen Polizeiberichte und Fahndungsmeldungen auf den Tisch bekam. Und deshalb sah er am späten Vormittag auch als Erster das Bild des Toten. Eines Toten, den er kannte.
    Dazu gab es ein Fax des Polizeipräsidiums:
    In der Nacht vom 28. auf den 29. April, gegen fünf Uhr früh, fand ein Jäger nach einer nächtlichen Wache auf seinem Hochsitz die Leiche eines circa dreißigjährigen Mannes. Der unbekleidete Körper lag am Rande eines Feldweges, nur etwa vierzig Meter entfernt vom südlichen Stadttor Tiefentals. Bislang gab es keinerlei Hinweise auf die Identität des Mannes. Fest steht, dass die Leiche über längere Zeit im Wasser gelegen hat (wahrscheinlich mehrere Tage), ehe man sie zum Fundort brachte. Hinweise bitte an das Präsidium.
    (Wir bitten um Abdruck des Fahndungsfotos.)
    Carsten saß da wie versteinert. Ausdruckslos starrte er in das entstellte Gesicht Sven Kirchhoffs. Seine Hand, die das Foto hielt, zitterte nicht. Äußerlich fühlte er sich sehr ruhig. Aber seine Gedanken drehten sich in einem tobenden Veitstanz. Kirchhoffs Wangen sahen aus, als habe er versucht, einen Apfel zu verschlucken, der jetzt in seinem Mund festsaß. Groß und rund gaben sie seinem Kopf eine groteske, verschobene Form. Seine Gesichtshaut war weiß und von cremiger Konsistenz. Beide Augen wurden von den geschwollenen Wölbungen seiner Brauenpartie zu schmalen Schlitzen zusammengepresst. Haare und Bart wirkten wie angeklebt, das gesamte Gesicht war übersät mit dunklen Flecken. Sie sahen aus wie Schwellungen nach Schlägen, doch aus früheren Erfahrungen mit Wasserleichen wusste Carsten, dass dies die Stellen waren, an denen sich Fische und Schnecken zu schaffen gemacht hatten.
    Zum ersten Mal an diesem Morgen spürte er, wie kalt es im Büro war. Das Licht der Neonröhren schien greller als sonst und brannte in seinen Augen. Selbst das Radio auf der Fensterbank, das leise vor sich hin spielte, schien plötzlich ohrenbetäubenden Lärm zu verbreiten. Er ließ das Foto auf den Tisch sinken und sah auf die Uhr. Fast Mittagszeit. Er stand auf, ging hinüber zu Nina und sagte leise: »Lass uns irgendwo essen gehen.«
    Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Geht nicht. Ich muss noch die Karteikarten …«
    »Lass uns bitte essen gehen«, zischte er.
    Ehrlicher, der Sport-Redakteur, sah herüber und grinste.
    Ihre Augen weiteten sich. Sie schien zu begreifen. »Okay«, sagte sie, stand auf und zog ihre Lederjacke von der Stuhllehne.
    »Spätestens in einer Stunde sind wir wieder da«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher