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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Freund und noch ein paar andere Leute auf dem Gewissen, aber du solltest dir nichts anmerken lassen. Mach deine Arbeit wie an allen anderen Tagen. Selbst wenn ein durchgedrehter Künstler jetzt das Letzte ist, was du ertragen kannst.
    Viktor rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her. Er wirkte anders als bei ihrem ersten Treffen; nicht mehr so überlegen, nicht so aristokratisch. Wie ein kleiner Junge, dem man eine besondere Freude gemacht hatte. Das machte ihn selbst in einem solchen Augenblick sympathisch.
    Die freudige Erregung in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Erinnern Sie sich daran, dass ich Ihnen bei Ihrem ersten Besuch sagte, ich male meine Bilder, damit sie gesehen werden?«
    »Sicher«, erwiderte Carsten.
    »Nun«, begann Viktor und zog das Wort wie ein Stück Gummi, »so, wie es aussieht, wird man sie wieder sehen können. Haben Sie Ihren Artikel über mich schon fertig?«
    Carsten schüttelte den Kopf. Es war ihm peinlich. Er hatte mit dem Schreiben begonnen, war aber nicht in der Lage gewesen, sich auf das Thema zu konzentrieren. Außerdem fehlten ihm noch einige Fakten.
    »Großartig«, rief Viktor zu seiner Überraschung. »Dann gibt es jetzt etwas, dass Sie unbedingt noch darin aufnehmen sollten.«
    »So?«
    »Ja«, sprühte Viktor, schien seinen Fehler aber sofort zu bemerken. »Nicht, dass ich Ihnen irgendetwas aufdrängen möchte, aber wenn Sie es hören, werden Sie meiner Meinung sein.«
    »Wenn ich was höre?«
    Viktors Augen weiteten sich. Sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. Unglaublich, wie ein Mensch sich so wandeln konnte, dachte Carsten.
    »Eine Ausstellung!«, rief der Maler. »Man widmet mir eine Ausstellung!«
    Das also war es. Nicht, dass die Nachricht ihn vom Stuhl warf. Carsten zwang sich zu einem erfreuten Lächeln. »Das ist ja wunderbar«, sagte er.
    »Nicht wahr? Eine große Leipziger Galerie hat sich entschlossen, mich durch eine mehrwöchige Exhibition zu ehren. Sie haben über sechzig meiner Bilder aufgetrieben. Über sechzig! Und das ohne meine Hilfe. Ach, was sage ich, ohne mein Wissen! Erst heute Morgen erreichte mich die Nachricht. Am Samstag findet die feierliche Eröffnung statt.«
    Carsten wusste, was jetzt von ihm erwartet wurde. »Wäre es möglich, daran teilzunehmen?«, fragte er pflichtschuldig. Über Viktors Schulter hinweg sah er, wie einige der Kollegen schadenfroh grinsten.
    »Natürlich«, sagte Viktor, und seine Euphorie schien kein Ende zu nehmen. »Ich möchte Ihnen zu einem Vorabbesuch verhelfen. Einen Blick hinter die Kulissen, sozusagen. Ich habe der verantwortlichen Dame in der Galerie bereits Bescheid gegeben, dass wir heute Nachmittag vorbeikommen.«
    »Prinzipiell gerne«, sagte Carsten so höflich, wie es eben ging. »Allerdings hatte ich für heute eigentlich bereits andere Pläne und …«
    »Sie wollen nicht?«, fragte Viktor enttäuscht. Seine Begeisterung fiel augenblicklich in sich zusammen. Plötzlich sah er aus wie ein Kind vorm brennenden Weihnachtsbaum.
    »Es geht nicht darum, was ich will«, bemühte sich Carsten verzweifelt. »Aber ich habe Termine, die bindend sind.«
    »Wäre es nicht möglich, sie zu verschieben?«, fragte Viktor traurig. »Nur um eine oder zwei Stunden. Wir würden gleich losfahren und wären am späten Nachmittag wieder zurück. Alles ist vorbereitet. Ich bitte Sie.«
    Es gab keine wichtigen Termine, und genaugenommen war er dem alten Mann einen Gefallen schuldig. Viktor hatte ihm bereitwillig sein Telefon zur Verfügung gestellt, als er dringend auf seine Hilfe angewiesen war. Außerdem gab es etwas, das er in seiner Situation noch viel nötiger brauchte: einen Verbündeten. Jeden, den er kriegen konnte.
    »Fahren Sie doch mit«, schaltete sich jetzt Ehrlicher in das Gespräch ein. Seine Einmischung kühlte Carstens Stimmung rapide auf den Nullpunkt. »Gönnen Sie sich ein wenig Abwechslung. Wir anderen wären froh, wenn wir öfters hier herauskämen.«
    Beifälliges Seufzen einiger Kollegen.
    Viktor beugte sich näher zu ihm vor. Seine Stimme blieb laut und für alle vernehmlich. »Das verschollene Bild, von dem ich Ihnen erzählte, ist auch unter den Ausstellungsstücken.«
    Carsten überlegte. Verschollenes Bild? Daran konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern.
    Viktor lächelte nachsichtig. »Sie erinnern sich doch? Das Bild vom gefrorenen See im Sperrgebiet.«
    Die Worte trafen ihn wie Hammerschläge. Einen Augenblick saß er da wie in Stahl gegossen, völlig perplex, den

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