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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Mund geöffnet, um etwas zu sagen, das nicht mehr kommen wollte. Der See im Sperrgebiet. Nicht einmal seinen Eltern hatte er davon erzählt. Sie hatten bis zuletzt geglaubt, er hätte sich den Knöchel auf einer öffentlichen Eisbahn gebrochen. Niemand wusste davon – außer einem einzigen Menschen.
    Mühsam brachte er ein erfreutes Lachen zu Stande. »Wirklich? Dann haben wir es ja tatsächlich mit einer kleinen Sensation zu tun.«
    »Einer kleinen?« Viktor stimmte in sein Lachen ein. »Ich war selten in meinem Leben so aufgeregt wie heute. Endlich darf ich es wiedersehen. Nach all den vielen Jahren.«
    Carsten nickte. »Sie wollen sofort los?«
    »Wenn es Ihnen recht ist«, sagte Viktor. »Sie wollen doch Ihre Termine einhalten, nicht wahr?«
    »Sicher.« Carsten stand auf, um Michaelis Bescheid zu geben. Als er sich umdrehte, lehnte der Redaktionsleiter in der offenen Tür seines Büros und starrte ihn an. Sein Blick schien ihn mit scharfen Klingen zu durchbohren. Dann, von einem Augenblick zum anderen, wischte ein Lächeln sein Misstrauen beiseite.
    »Fahren Sie nur«, sagte er. »Und bringen Sie uns eine nette Geschichte mit.«
    Carsten nickte verwirrt, packte Mantel und Schreibzeug und folgte Viktor zum Ausgang. Michaelis verschwand in seinem Büro und schloss die Tür.
    Bevor Carsten ging, fing er einen Blick von Nina auf. Ihr Gesicht war starr, und nicht einmal das Make-up konnte jetzt übertünchen, wie bleich sie war. Gib auf dich acht, sagten ihre Augen.
    Das Telefon auf Michaelis' Schreibtisch klingelte nur einen Augenblick, nachdem die beiden das Gebäude verlassen hatten.
    »Was halten Sie davon?«, fragte Tafuri.
    »Nichts.«
    »Warum haben Sie es dann zugelassen?«
    »Das hier ist kein Kerker. Und ich bin kein Gefängnisaufseher. Wir können Worthmann nicht einsperren.«
    »Sie gehen ein großes Risiko ein.«
    »Nicht, wenn Ihre Leute auf der Hut sind, Tafuri. Sorgen Sie dafür, dass sie ihn kein zweites Mal verlieren. Nawatzki würde das nicht gerne hören.«
    Die Stimme des Italieners klang amüsiert. Bereits ihr Ton brachte Michaelis zur Weißglut. »Ich sitze hier oben nur in meiner Suite, sehe fern und lausche meinen Kopfhörern. Das ist mein Job. Alles andere ist Ihrer. Sie sind Nawatzkis Ansprechpartner, Herr Michaelis. Denken Sie daran.«
    Der Redaktionsleiter schluckte. »Kümmern Sie sich um Worthmann«, stieß er schließlich hervor. »Kümmern Sie sich nur um ihn, Tafuri. Und machen Sie keinen Fehler.« Er legte den Hörer auf die Gabel, verschloss beide Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück.
    Viktors Trabant holperte durch Schlaglöcher, groß und tief wie Kochtöpfe. Der Motor bockte bei jeder Bodenwelle, und das Klappern der Karosserie war ohrenbetäubend. Gelegentlich hatte Carsten das Gefühl, ganze Teile fielen von dem Wagen ab und blieben auf der Straße zurück. Sein Rücken und seine Knie taten weh, und einmal biss er sich so heftig auf die Zunge, dass er den eisernen Geschmack von Blut im Mund spürte.
    »Wo fahren wir wirklich hin?«, fragte er.
    Viktor sah ihn nicht an. Carsten bemerkte, dass der alte Mann alle paar Augenblicke in den Rückspiegel blickte. »Nach Leipzig«, antwortete er.
    »Wohin dort?«, fragte er. Und zum zwanzigsten Mal: »Ist Sandra dort? Lebt sie noch?«
    Viktors Stimme klang ungeduldig. »Ich habe Sie gebeten, abzuwarten, und wäre Ihnen nach wie vor sehr verbunden, wenn Sie sich daran halten könnten.«
    Nachdem sie in den Wagen gestiegen und losgefahren waren, hatte sich Viktors Stimmung von einer zur anderen Sekunde schlagartig geändert. Mit einem Mal war er sehr ernst. Keine Spur mehr vom Enthusiasmus der letzten Minuten.
    »Verdammt, mehr verlange ich doch gar nicht«, rief Carsten barsch. »Sagen Sie mir nur, was mit ihr ist. Und wo Sie mich hinbringen!«
    Viktor schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich kann Ihnen nichts sagen, weil ich nichts weiß. Ich fahre Sie nur. Und wenn Ihnen das nicht passt, dürfen Sie gerne zu Fuß gehen.«
    »Ich weiß ja nicht mal, wohin.«
    »Das ist allerdings ein Problem.«
    »Verdammt«, rief Carsten und schlug mit der Faust gegen die Konsole. Ein Schalter sprang ab. Wütend drehte er sich zum Beifahrerfenster und starrte hinaus. Sie rumpelten jetzt durch Leipzigs Außenbezirke.
    Viktor steuerte den Wagen schweigend Richtung Zentrum. Immer wieder schaute er in den Rückspiegel. »Sie sind hinter uns«, stellte er fest.
    Carsten zuckte zusammen. »Sie verfolgen uns?«
    »Was denken Sie denn? Dass die Sie

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