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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ebenso litt wie er selbst, verbarg sie unter einer Maske ungekünstelter Fröhlichkeit und – wie er beim Näherkommen bemerkte – einer Spur von Make-up.
    Sie stand auf und hauchte ihm einen Begrüßungskuss auf die Wange. Es wirkte wie eine spontane Geste, aber er bemerkte, dass sie einen Moment gewählt hatte, in dem es allen Anwesenden auffallen musste. Der eine oder andere lächelte verlegen. Die meisten Redakteure hatten sich bereits zur Konferenz um einen der Schreibtische geschart. Die Tür von Michaelis Büro war noch geschlossen.
    Er wollte an seinen Platz gehen, doch Nina hielt ihn sachte zurück. Als er sie fragend ansah, drückte sie ihm eine zusammengerollte Zeitung in die Hand. Es war kein Exemplar des Harzboten, sondern die aktuelle Ausgabe der Leipziger Volkszeitung.
    »Die Titelseite des Lokalteils«, flüsterte sie ihm zu. Sie setzte sich zurück an ihren Tisch und beschäftigte sich mit einigen Fotos vom Vortag, die sie zurück in ihre Archivhänger sortierte.
    Carsten ließ sich auf seinen Stuhl fallen, vergewisserte sich, dass ihm niemand über die Schulter sah, und öffnete die Zeitung an der entsprechenden Stelle. Auf der vorderen Lokalseite befanden sich in der rechten unteren Ecke mehrere Kurzmeldungen. Carsten überflog die Überschriften, und da war es.
    Journalistin ermordet stand schlicht über einem Einspalter. Darunter wurde in knappen Worten berichtet, dass es in der vorletzten Nacht in einem der Städtischen Krankenhäuser zu einem Mord gekommen war. Die DPA-Redakteurin Simone Gregor, erst kürzlich bei einem Unfall schwer verletzt, war in ihrem Krankenbett erschossen worden. Täter und Motiv unbekannt. Darauf folgten ein knapper Nachruf in drei oder vier Sätzen und ein kleines Foto der Ermordeten.
    Carsten legte die Zeitung beiseite und sah zu Nina hinüber. Für einen kurzen Moment fiel ihre Maskerade in sich zusammen. Er konnte die Furcht in ihren Augen sehen, die Panik, die sie beim Lesen der Meldung befallen hatte. Einen Augenblick lang spürte er den brennenden Wunsch aufzustehen, zu ihr hinüberzugehen und sie an sich zu drücken.
    Keine gute Idee, sagte er sich. Lass dir nichts anmerken. Bleib ganz ruhig. Nimm dir ein Vorbild an ihr. Versuch, es genauso tapfer zu tragen wie sie. Michaelis kam aus seinem Büro und bat zur Konferenz. Carsten bemühte sich, ihn so unauffällig wie möglich zu beobachten. Der Redaktionsleiter war locker und gelöst wie immer. Sollte er wirklich etwas mit den Morden zu tun haben, so ließ er sich nichts anmerken. Er sprach ruhig, machte Scherze über einige der angesagten Themen und zeigte keine Spur von Nervosität oder Unsicherheit. Erneut erinnerte sich Carsten an ihren Ausflug in die Keller, an die Begeisterung in Michaelis' Blick, als er ihm den Raum mit den Zeitungsabdrücken an den Wänden gezeigt hatte. Seine Kaltblütigkeit war beneidenswert – und von gefährlicher Konsequenz. Nach der Konferenz verschwand Michaelis wieder in seinem Büro. Die ersten Redakteure verabschiedeten sich zum Mittagessen.
    Plötzlich drangen aus der Eingangshalle Rufe herüber. Einen Augenblick später flog die Tür auf, und eine kleine Gestalt stürmte wild gestikulierend herein. Dahinter erschien ein junger Wachmann und rief dem Eindringling aufgeregt hinterher, er könne unmöglich einfach hereinspazieren, ohne sich in die Besucherliste einzutragen.
    Der kleine Mann beachtete ihn nicht. Stattdessen sah er sich suchend um, entdeckte Carsten und kam mit wehendem Mantel auf ihn zu. »Herr Worthmann, befreien Sie mich von diesem Banausen in meinem Rücken.«
    Carsten grinste und reichte Viktor die Hand. Der alte Maler griff zu und schüttelte sie mit aller Kraft. Carsten erklärte dem Wachmann, dass alles in Ordnung sei, bat Viktor, sich zu setzen, und sah sich nach frischem Kaffee um. Nina kam bereits mit einer Tasse herüber.
    Der Maler dankte, ohne sie dabei anzusehen. Stattdessen konzentrierte er seinen Blick ganz auf Carsten. Seine Augen sprühten vor Enthusiasmus.
    »Eine Sensation«, sagte er aufgeregt, »eine echte Sensation!«
    Die übrigen Redakteure wandten sich allmählich wieder ihren Monitoren und Zeitungen zu. Es gab immer wieder Verrückte, die glaubten, die Redaktion wie ein Piratenschiff entern zu müssen, um ihre Geschichten anzupreisen. Solche Besucher verloren schnell ihren skurrilen Reiz.
    »Was ist passiert?«, fragte Carsten und bemühte sich um den Anschein von Interesse. Mach weiter wie sonst, sagte er sich. Dein Chef hat einen

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