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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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nie zuvor gesehen. Trotz der Last der vergangenen Stunden, der Furcht um Ninas und sein eigenes Leben, raubte ihm der Anblick für einen Augenblick den Atem. Breite Stufen reichten hinauf zu einem steinernen Koloss, der sich zur Spitze hin verjüngte, pyramidenförmig, und doch ganz anders als die uralten Giganten Ägyptens.
    »Zehn Millionen Zentner Stein, aufgeschichtet zum Andenken an die Entscheidungsschlacht gegen die Heere Napoleons«, sagte Viktor. »Die Reiseprospekte nennen es das Wahrzeichen Leipzigs. Dabei bezweifle ich, dass die meisten Menschen im Westen je davon gehört haben. Es ist einer dieser Schätze, die der Eiserne Vorhang perfekt vor der übrigen Welt versteckt hat. Aber es ist zweifellos beeindruckend.«
    Nachdem Viktor den Wagen auf den Parkplatz gelenkt hatte und beide ausgestiegen waren, fragte Carsten: »Sie haben mich nicht hierhergebracht, um mir die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, oder?«
    Der Maler schüttelte den Kopf. »Gehen Sie hinüber, und steigen Sie die Treppen zur Spitze hinauf. Man erwartet Sie.«
    »Sie kommen nicht mit?«
    »Oh, nein«, lachte Viktor. »Es sind fünfhundert Stufen bis dort hinauf. In meinem Alter verzichtet man besser auf solche Abenteuer.«
    Carsten sah ihm ernst in die Augen. Sie waren dunkel, fast schwarz. »Was ist dort oben?«
    Viktor hob die Schultern. »Antworten. Und jetzt gehen Sie. Verschwenden Sie keine Zeit.«
    Ein letztes Mal trafen sich ihre Blicke, dann wandte Carsten sich um und überquerte den Parkplatz. Er stieg die erste Treppe hinauf, bis sich vor ihm die Plattform und in ihrem Zentrum ein langgestrecktes Wasserbecken ausbreiteten. Mit schnellen Schritten folgte er der schnurgeraden Uferlinie. Dabei ließ er die windumtoste Spitze des Denkmals nicht aus den Augen. Viktor hatte Bescheid gewusst über den See im Sperrgebiet. Es gab nur eine einzige Person, die ihm davon erzählt haben konnte. Plötzlich dachte er nicht mehr an Nina, vergaß die Morde, vergaß seine Angst. Der Schatten des finsteren Steinriesen verschluckte ihn mit seiner brodelnden Dunkelheit.
    Er ging schneller und schneller, bis er den Fuß des Denkmals erreichte und weitere Treppen hinaufstieg. An ihrem Ende thronte schwer und bedrohlich eine gewaltige Statue, mehr als sechsmal so hoch wie er selbst. Der Erzengel Michael; er schien in seinem Streitwagen direkt über ihn hinweg zu donnern. Die steinernen Furien an seiner Seite schwenkten die Fackeln des Krieges.
    Noch mehr Treppen, ein dunkles Tor und dahinter eine majestätische Kuppelhalle, fast siebzig Meter hoch. Selbst für einen Wochentag hielten sich in ihrem Inneren wenige Besucher auf. Sechzehn gewaltige Krieger aus Stein wachten über das Zentrum der Halle, darüber saßen auf einem Balustradenring vier weitere Felsriesen.
    An einer Seite der Halle fand er einen schmalen Durchgang, der ihn zu einer engen Wendeltreppe führte. Bebend vor Aufregung begann er den Aufstieg. Fünfhundert Stufen, hatte Viktor gesagt. Nach zwanzig hörte er auf zu zählen.
    Die Treppe schraubte sich immer höher hinauf, Carsten begann zu schwitzen und nach Luft zu schnappen. Niemand begegnete ihm. Einmal wäre er beinahe abgerutscht und rückwärts die Stufen hinuntergestürzt. Im letzten Moment konnte er sich fangen und weiter nach oben steigen, weiter und weiter und weiter. Die glatten, gebleichten Wände des Treppenschachtes schienen immer enger zusammenzurücken. In seinem Kopf drehte sich alles.
    Schließlich erreichte er die innere Spitze der Kuppel. Ein schmaler Rundweg führte entlang der Wände um den Abgrund. Von dort aus führten ein Aufzug und eine weitere Treppe höher hinauf. Der Lift war außer Betrieb, die Treppe durch ein rotes Band für Besucher gesperrt.
    Während Carsten noch überlegte, ob er weitergehen sollte, sah er, wie ein Schatten über das obere Ende der Treppe huschte. Den Bruchteil einer Sekunde lang erkannte er eine Gestalt in langem, wehendem Mantel. Dann hörte er weiter oben Schritte, die sich entfernten.
    Er stieg über das Band und folgte den Stufen. Nach einer Weile erreichte er einen höhergelegenen Raum, der in einer zweiten, kleineren Kuppel gipfelte. Eine quergespannte Kette verwehrte den Eintritt. Im Zwielicht des kreisrunden Raumes stand jemand, den Rücken zur Tür gewandt.
    Sandra, dachte er.
    Die Gestalt drehte sich um. Die Ränder ihres schwarzen Mantels hoben sich vom Boden wie Vogelschwingen.
    Es war ein Mann. Als er sprach, hallte seine Stimme unter der Kuppeldecke wie

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