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Schweigenetz

Titel: Schweigenetz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Kirchengesang.
    »Wir haben uns noch nicht kennengelernt«, sagte er mit ernster Miene. »Gestatten, mein Name ist Fenn.«
    Er war kaum älter als Carsten, höchstens fünfunddreißig. Sein glattes, dunkles Haar war hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden und verschwand im Mantelkragen. Blaue Augen schimmerten hell über hohen Wangenknochen. Eine fingerlange Narbe zog eine haarlose Kluft durch seine linke Augenbraue, erstreckte sich über seine schmale, kluge Stirn bis hinauf zum zurückgekämmten Haaransatz. Er erinnerte ihn an einen Schauspieler, dessen Name ihm nicht einfiel. Irgendetwas war an ihm, das Carsten zu gleichen Teilen anzog und abstieß. Vielleicht war es die ruhige Autorität, die er ausstrahlte, eine Aura von Überlegenheit und Selbstbeherrschung. Er wirkte sehr kontrolliert, sehr perfekt. Als Fenn mit langsamen Schritten auf Carsten zukam, tat er es mit den Bewegungen eines Tänzers.
    »Entschuldigen Sie bitte dieses Versteckspiel«, sagte er, »aber in Anbetracht der Entwicklungen hielt ich es für notwendig. Ich musste mich erst vergewissern, dass Sie der Richtige sind, bevor ich Sie hier hinaufführte.«
    Der übereilte Aufstieg hatte Carsten vollkommen erschöpft. »Wo ist Sandra?«, stieß er zwischen zwei Atemzügen hervor.
    Fenns schmale Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Nicht hier, wie Sie sehen.«
    »Hören Sie auf mit diesen Spielchen!« Einatmen, ausatmen. »Wo ist sie?«
    »Später«, sagte Fenn, und der Klang seiner Stimme verriet, dass er keinen Widerspruch duldete. »Ich bin sicher, Sie haben noch eine Reihe weiterer Fragen. Stellen Sie sie.«
    Carsten war schlecht. Er war kaum noch in der Lage geradezustehen, geschweige denn klar zu denken. Ja, er hatte eine Menge Fragen.
    »Wer sind Sie?«
    Fenn nickte, als sei er damit zufrieden. »Meinen Namen habe ich Ihnen bereits genannt. Bis Ende 1989 war ich Angehöriger des Ministeriums für Staatssicherheit. Mein Dienstrang ist heute nicht mehr von Bedeutung.« Er lächelte wieder. »Im übertragenen Sinne bin ich der Michaelis der Gegenseite.« Der Vergleich schien ihn zu amüsieren.
    Carsten trat einen Schritt zurück und lehnte sich gegen die gewölbte Wand des Kuppelraumes. Der Stein fühlte sich eisig an.
    »Was hat das alles zu bedeuten?«
    »Keine sehr präzise Frage. Vor allem nicht für einen Mann mit journalistischer Ausbildung.« Fenn stand frei und in sehr gerader Haltung mitten im Raum. Carsten hatte das sichere Gefühl, dass er ewig so dastehen konnte, ohne auch nur sein Gewicht zu verlagern.
    »Sie sind da in eine ziemlich unangenehme Sache hineingeraten«, fuhr Fenn fort. »Ich darf Sie Carsten nennen, oder? Sandra tut das auch.«
    »Sagen Sie mir endlich, was mit ihr ist!«
    »Eines nach dem anderen, bitte. Und schreien Sie nicht so. Wir sind hier oben zwar allein, aber die Geräuschübertragung in diesem Gebäude ist phänomenal. Was Ihre Situation angeht – nun, sie sieht nicht allzu rosig aus. Um es ganz deutlich zu sagen: Sie stecken bis zum Hals in der Scheiße. Und den einen oder anderen Schluck haben Sie ja schon nehmen dürfen. Aber es wird noch schlimmer kommen, viel schlimmer.«
    Carsten spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Die Umgebung tanzte vor seinen Augen. Fenn stand im Zentrum dieser Bewegung wie ein schwarzer Magnet, der alles andere aus seiner Bahn warf. Plötzlich spürte er das unbändige Bedürfnis, mit beiden Fäusten auf das markante Gesicht über dem dunklen Kragen einzuschlagen.
    Fenn schien seine Gedanken zu lesen. Er quittierte sie mit einem Grinsen. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben; wir sind keine Gegner. In Anbetracht der Umstände wäre es sogar besser, wir würden uns bemühen, Freunde zu werden. Vor allem Sie hätten dadurch nur Vorteile.«
    »Ich will nur wissen, was mit Sandra los ist.«
    Der Ex-Agent seufzte. »Sie geben keine Ruhe, was? Viktor hat mich vor Ihnen gewarnt. Sie seien eine Nervensäge, hat er gesagt. Aber gut, Sie sollen hören, was Sie hören wollen.« Er nahm die Hände aus den Taschen und verschränkte sie hinter dem Rücken. »Sandra lebt. Aber wahrscheinlich haben Sie sich das bereits denken können. Ich muss sagen, Sie haben sich eine Menge Mühe gegeben, hinter das Geheimnis zu kommen. Reine Kraftverschwendung, übrigens. Früher oder später wären wir ohnehin von uns aus auf Sie zugekommen.«
    Carsten schloss für eine Sekunde erleichtert die Augen. »Wie geht es ihr?«
    »Oh, nicht wirklich gut, aber auch nicht schlecht. Den Umständen entsprechend. Wie

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