Schweigfeinstill
Grundhaltung des Schenkens verurteilte; dennoch wollte ich ihr meine Anerkennung zeigen und ihr für ihre Freundschaft danken. Etwas Passendes würde mir schon noch in den Sinn kommen. Für Carlo wiederum fiel mir nichts Vernünftiges ein. Sobald ich einen Mann beschenken wollte, gingen mir die Ideen aus. Außerdem stand Janne ganz oben auf der Geschenkeliste, aus Höflichkeit auch seine Schnepfe von Ehefrau und die beiden Jungen. Ich sah kurz auf, als die Strecke unterirdisch weiterführte. Am Hauptbahnhof stiegen zwei Typen mit hängenden Hosenböden und Kapuzenpullovern ein. Sie hockten sich mir schräg gegenüber und steckten Zigaretten an. Ich hielt die Klappe und starrte in die Dunkelheit des Tunnels. In der spiegelnden Scheibe sah ich, wie sie mich provozierend musterten. Pech gehabt, Sonnyboys, mit euch werde ich mich ganz bestimmt nicht anlegen. Am Stachus stieg ich aus und wechselte in die U 4.
12.
Andy Steinfelder öffnete mir die Tür. Wir hatten keinen Termin vereinbart, aber montags war er immer daheim. Am Dienstag hatte er Ergotherapie, am Mittwoch Krankengymnastik und am Donnerstagabend kam er mit einer Selbsthilfegruppe zusammen. Freitags machte er sich früh auf den Weg nach Sendling, wo seine Sprachtherapeutin ihre Praxis hatte. Ich kannte Andys Agenda besser als meine.
»Hallo, Kea!«, rief Andy. Die Sprechmelodie machte ihm keine Probleme. Ich hörte sofort, dass er sich freute. Da mein Nachname für ihn zu schwierig war, redeten wir uns mit Vornamen an.
»Haben Sie Zeit?«, fragte ich. »Mir sind noch ein paar Fragen eingefallen.«
»Natürlich!« Die Wörter stürzten aus seinem Mund wie Steinschlag. Er ging mir voraus ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief. Er schaltete ihn aus und schaute betreten. »Kaffee?«, fragte er. So weit klang unsere Unterhaltung ganz normal. Die meisten Leute verständigten sich mit einzelnen Wörtern, wenn man genau hinhörte. Für ganze Sätze blieb keine Zeit.
Ich winkte ab, denn mit nur einem Arm brauchte Andy lange zum Kaffeekochen, und ich wollte schnell zum Kern der Sache kommen.
Ich kramte meinen Kollegblock aus der Tasche. Andy sah mich eifrig an. Er liebte diese Stunden mit mir, bei ihm zu Hause, manchmal in einem Café in der Au, dem Stadtteil, wo er aufgewachsen war. Erst jetzt, wo ich mit Juliane gesprochen hatte, wurde mir klar, was ich für Andy bedeutete: Als seine Ghostwriterin war ich sein Scharnier zur Wirklichkeit, zur Gesellschaft da draußen. Seine Synchronstimme.
Oft hatten mir meine Kunden begeistert berichtet, dass sie sich nach den Interviews mit mir wieder ›so lebendig wie früher einmal‹ gefühlt hätten. Es war mir gelungen, aus ihnen herauszukitzeln, was sie noch heute auf dem Gleis hielt: Erinnerungen an glückliche Stunden, an Augenblicke prallen Lebens, voller Selbstbewusstsein und Plänen für die Zukunft. Momente, in denen einem das Dasein golden vorkam. Mehr noch: Die Emotionen von einst stellten sich erneut ein. Meine Auftraggeber waren für Minuten, vielleicht sogar Stunden oder Tage wieder verliebt, auf Abenteuerurlaub oder hielten ihr erstes Baby im Arm. Bei Andy kam hinzu, dass jemand seine Gefühle artikulierte und ihm die Befriedigung vermittelte, die jeder von uns empfand, wenn er auszudrücken vermochte, was ihn wirklich bewegte.
»Wir haben schon viel über das Vergangene gesprochen.« Ich ließ ihm Zeit. Er verstand recht gut, brauchte aber länger als ein Gesunder, um den Inhalt zu verdauen. Es kam vor, dass er vor lauter Eilfertigkeit meinte, mich verstanden zu haben, und doch etwas ganz anderes herausgehört hatte. Bei Andy war Geduld vonnöten. In jeder Hinsicht. Um ihm Zeit zu geben, ließ ich den Blick schweifen. Viel Glas, viel Chrom. Alles dunkel, elegant, teuer und ungemütlich. Das Leder des Sofas unter meinem Hintern war eiskalt.
»Vergangenheit«, sagte Andy stolz, als habe er das Wort eben in einer Enzyklopädie nachgeschlagen.
»Bisweilen ist es wichtig, über die Gegenwart sehr gut Bescheid zu wissen, um die Vergangenheit zu verstehen.« Ich wusste selbst nicht, ob das stimmte. »Beim Schreiben über die Vergangenheit muss ich schon die Gegenwart einbeziehen. Es ist, als wenn man Fäden spinnt, die nachher ein Muster ergeben.«
»Ja, klar!« Andy rückte mit der linken Hand den gelähmten rechten Arm zurecht.
»Daher dachte ich, es wäre gut, wenn wir uns ein wenig mehr über Ihr aktuelles Leben unterhalten.«
Andy machte ein missmutiges Geräusch.
»Leben jetzt scheiße«, sagte er.
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