Schweigfeinstill
Ehemann verlässt.
Angstschweiß bricht ihm aus. Was passiert, wenn Jenny eines Tages aus dem Haus ist? Wird Gina ihn in ein Pflegeheim abschieben? Ihn einmal die Woche pflichtgetreu besuchen, aber ansonsten mit einem anderen leben? Werden fremde Pflegerinnen ihm den Hintern abwischen, wird er ein Gemüse sein, das vegetiert, unerwünscht und nutzlos, während all seinen Gesprächspartnern die Frage auf der Stirn steht: Warum kann er nicht endlich sterben?
Ich könnte mich umbringen, denkt Andy. Das wäre besser als Pflegeheim. Dies ist eine Überlegung, die er umsichtig hegt und pflegt, die zu Besuch kommt, wenn das Leben ekelhaft ist, die aber nie für länger bleibt. Er hält diese Option in Schach, damit sie sich nicht zu deutlich in sein Gemüt bohrt. Auch wenn er es niemandem so sagen kann: Andy erwartet noch etwas vom Leben. Nur wenn er es gar nicht mehr aushält, kramt er die Notlösung heraus und denkt darüber nach, wie er es tun würde.
Erschöpft stützt Andy sich an einen Baum. Die Wolken ziehen sich drohend zusammen. Ihm wird kalt. Er darf nicht so weit in die Zukunft denken, das macht ihn schwindelig und müde. Besser, er denkt nur an das Nächstliegende. Erst einmal heimlaufen. Das schafft er, wenn er die Zähne zusammenbeißt, obwohl sich sein rechtes Bein plötzlich vollkommen taub anfühlt. Dann wird er duschen und überlegen, wie er mit Jenny verfährt. Er könnte Gina die Pornos zeigen. Nicht den Film, auf dem sie zu sehen ist, aber die Pornos. Sie könnten gemeinsam überlegen, wie sie vorgehen wollen. Wie sie das Gespräch mit Jenny suchen werden. Oder soll er seine Tochter einfach darauf ansprechen? Sich mit ihr vor den Rechner setzen und die Filme starten?
Andy muss sich nun auf jeden seiner Schritte konzentrieren. Er hat in der Eile seinen Gehstock nicht mitgenommen. Aber irgendwie schafft er es schon nach Hause. Sein Orientierungsvermögen hat durch den Schlaganfall gelitten, aber natürlich weiß er, dass er an der nächsten Kreuzung links gehen muss. Er hält alle paar Meter an. Atmet tief durch und kämpft sich voran. Ein Flimmern liegt in der Luft. Es wird sehr kalt. Andy friert. Er schafft es bis zur Kreuzung, hält sich links, stützt sich am Zaun ab und schleppt sich Schritt für Schritt vorwärts. Er erreicht eine Garage. Sie steht offen. Andy hinkt darauf zu. Im Schutz der Garage kann er kurz verschnaufen. Er kneift die Augen zusammen. Stutzt. Erschrickt.
Maßlos.
Er sinkt auf die Knie und tastet mit dem linken Arm über den Mantel des Mannes, der dort auf dem Betonboden liegt. Auf dem Rücken. Sein Mantel steht offen. Blut hat sein Hemd durchtränkt. Andys gesunde Hand legt sich auf die feuchte Stelle. Andy will um Hilfe rufen. Er will schreien, aber seine Kehle ist zugeschnürt, seine Stimme rostig, aus seinen Augen schießen Tränen.
Das ist er. Es ist der Mann, der Gina massiert hat. Andy starrt in die toten Augen.
Er will ›Hilfe‹ rufen, aber aus seinem Mund kommt das einzige Wort, das er in Schocksituationen parat hat.
»Scheiße!«, brüllt Andy. »Scheißescheißescheiße!«
42.
Wir verließen die Autobahn und kurvten auf ein Dorf zu. Das Schild flog an mir vorbei, zu schnell, um es lesen zu können. Der Wagen passierte den Ort und fuhr in rasantem Tempo einen Hügel hinauf.
»Hier wären wir«, sagte Müller. »Auf Wiedersehen, Frau Laverde.«
Ich hatte mit allem gerechnet. Nur nicht damit, dass es so schnell vorbei sein würde. Der Wagen hielt, Müller löste seinen Gurt, beugte sich über mich, stieß die Tür auf und gab mir einen Schubs.
»Wer ist Lehr?«, schrie ich gegen den tosenden Wind. Müller grinste und zog die Tür zu. Der Wagen fuhr an und verschwand hinter der nächsten Kurve.
Als Erstes umklammerte ich meine Schultertasche und presste sie an mich wie einen Welpen. Immerhin hatten sie meinen Rechner nicht gefilzt. Sie wussten nichts von meiner Reservespeicherung, sie wussten nichts von der Hohenzollernstraße. Gut.
Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich in der Schneewehe gelegen hatte, bevor das Zittern meines Körpers mich an die nächstliegenden Bedürfnisse erinnerte. Prustend kämpfte ich mich aus dem Schnee und trat auf die Straße. Der Asphalt war nicht mehr zu sehen, aber wenigstens die Reifenspuren, die Müllers Limousine hinterlassen hatte. Entschlossen drehte ich mich um und ging in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Wir hatten einen Ort durchquert. Dort gab es Menschen, elektrischen Strom, Heizungen und mit etwas Glück
Weitere Kostenlose Bücher