Schweigfeinstill
anderes übrig. Vielleicht war Carlo sogar noch bei mir zu Hause, dann würden Müllers Handlanger es nicht wagen …
»Herrschaften, Frau Laverde und ich würden gerne etwas Musik hören.«
Der Beifahrer legte eine CD ein. Ich starrte aus dem Fenster. Eine sonderbare Erstarrung senkte sich auf mich. Müller legte sich mächtig ins Zeug, um sich und mir zu beweisen, dass er ein kultivierter Mann war, der sein Geld lediglich auf etwas ungewöhnliche Weise verdiente. Selbst schuld, die Mädels, wenn sie das freiwillig tun, nicht wahr?, klang seine unausgesprochene Bemerkung durch den Wagen, unterlegt von ›De miei bollenti spiriti‹. La Traviata. Ich liebe Verdi. Eigentlich. Nur spürte ich, dass an dieser Frage etwas falsch war. Freiwillig konnte das nicht sein. Ich hatte wenig Ahnung von Sadomaso-Kulten, neigte in sexuellen Dingen zu Toleranz, solange ich perverse Sachen nicht mitmachen musste. Aber die Filme, die Müller mir vorgeführt hatte, sahen keine Freiwilligkeit vor. Hier gab es keinen Notknopf, der die Handlung beendete, wenn einer der Beteiligten nicht mehr wollte.
Die Limousine raste durch die Nacht. Einmal gerieten wir auf der glatten Schneefläche ins Rutschen, und auf eine unwillige Bemerkung von Müller hin fuhr der Fahrer langsamer. Schließlich beugte sich Müller vor und sagte: »Wie ausgemacht.«
Der Fahrer nickte.
Jetzt würden sie mich entsorgen. Mir wurde schlecht vor Angst, aber das Gefühl verflog sofort und machte einer entsetzlichen Kälte Platz. Der Kälte der Todesangst.
41.
Schritt für Schritt hat Andy sich beruhigt. Jetzt lehnt er an einem Garagentor und bringt seinen Atem unter Kontrolle. Er hätte sich nicht so gehen lassen dürfen. Kea kann nichts dafür. Er ist ausgerastet. Es darf nicht passieren. Seit seinem Schlaganfall ist er richtig jähzornig geworden. Andy schaudert. Eben hat er die Jacke nur über die Schultern geworfen. Er müht sich, den gelähmten Arm in den Ärmel zu bugsieren. Das braucht Zeit und ein gewisses Fingerspitzengefühl, das ihm gerade heute abgeht. Er zittert in der kalten Luft. Endlich schlüpft auch sein linker Arm in die Jacke. Er hat keinen Nerv mehr, sich um den Reißverschluss zu kümmern. Er hasst Reißverschlüsse. Sie mit nur einer Hand zuzumachen ist mindestens ebenso schwierig, wie sich gefesselt aus einem Tigerkäfig zu schleichen. Den Trick hat er mal im Zirkus gesehen. Jenny konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Wie ist der Magier, an Händen und Füßen gefesselt, aus einem mit drei Schlössern verschlossenen Käfig entkommen, noch dazu, wo ein Tiger darin umherstreifte?
Andy lächelt unwillkürlich. Er rafft sich auf und geht weiter. Ein Spaziergang durch das Viertel wird ihm guttun, auch wenn er heute das rechte Bein nicht richtig steuern kann. Jetzt, da die brennende Wut verflogen ist, bemerkt er, wie unsicher er geht. Sogar seine Gedanken sind außer Kontrolle. Sich zu konzentrieren, tut ihm körperlich weh. Als sei er aus einem verwirrten Traum aufgewacht. Die Filme auf Jennys Rechner, Keas verblüfftes Gesicht, ihre Unsicherheit, ihre Weigerung, mit Jenny zu reden. Das hat Andy sehr genau verstanden: Dass Kea Laverde keine Lust hat, Jenny zur Rede zu stellen. Andy kann es ihr nicht einmal verübeln. Wer mischt sich schon gerne in eine Familienangelegenheit ein. Kea Laverde soll seine Autobiografie schreiben und nicht Erziehungshilfe leisten. Aber was geschieht hier? Wer ist der Mann, der Gina massiert? Andy ist nicht so dumm, er hat längst gemerkt, dass Gina an einen anderen denkt, wenn er neben ihr im Bett liegt und ihr unbeholfen über die Hand streicht. Manchmal kauft sie sich neues Schminkzeug, wirft das alte aus der Handtasche direkt in den Mülleimer und lächelt dabei auf so eine verträumte Art … Make-up war Gina schon immer wichtig. Andy bleibt stehen, holt Atem. Er hat kaum auf seinen Weg geachtet. Nun hat er sich verfranst. Steht zwischen Villen und Bäumen, betrachtet die protzigen Mauern, die die Grundstücke zur Straße hin abschließen. Er hat hier nie wohnen wollen. Aber Gina legt Wert darauf, ihren Reichtum zu zeigen. Geld ist für Gina wichtig. Vielleicht wichtiger als die Liebe. Als es mit ihr und Andy nicht mehr so recht klappte, schon vor dem Schlaganfall, hat er oft den Eindruck gehabt, dass nur das äußere Bild einer harmonischen Familie Gina davon abhielt, ihn zu verlassen. Aber jetzt, denkt Andy, jetzt sieht alles anders aus. Das verzeiht die Gesellschaft nicht, wenn eine Frau ihren behinderten
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