Schweigfeinstill
eine Wirtschaft.
Meine Schultertasche war nach kurzer Zeit schwer wie Blei. Meine Ohren schmerzten vor Kälte. Ich wickelte mir den Schal um den Kopf und stapfte entschlossen vorwärts. Immerhin wurde mir von der Bewegung halbwegs warm. Immer wieder drehte ich mich um, aber ich sah in der Dunkelheit keine Scheinwerfer auftauchen, keine schwarze Limousine, in der Verdi gespielt wurde. Diese grässlichen Filme! Mein Verstand sagte mir, dass ich verstört war. Dass es normal war, wenn ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Und doch arbeitete mein Kopf im Rhythmus meiner Füße, die durch den Schnee stiefelten. Meinem keuchenden Atem lauschend dachte ich an Gina Steinfelder. Ich dachte an das Apartment, an dessen Klingel der Name ›Lehr‹ stand. Ich hatte alle Variablen zusammen und musste sie nur noch anordnen, um Licht in die Affäre zu werfen. Beim Schreiben war es ähnlich. Irgendwann spürten Autoren, dass nun alles parat war, um anzufangen. Dass die Recherche geleistet war und nichts Neues mehr gebraucht wurde. Manche verpassten den magischen Moment. Das waren die Schreiberlinge, die immer weiter recherchierten, noch mehr Fakten und Daten zusammentrugen und irgendwann ein undurchdringliches Dickicht an Informationen aufs Blatt brachten, für das der Leser eine Machete benötigte. Allerdings hatte kein Leser Lust, sich den Weg durch einen Text freizuschneiden.
In der Ferne sah ich die Lichter des Ortes auftauchen; und als ich mich über die Kuppe des nächsten Hügels kämpfte, erkannte ich weit weg die Autobahn, einen Lindwurm aus weißen und roten Lichtern. In die eine Richtung standen die Fahrzeuge. In die andere lief der Verkehr. Vielleicht könnte ich mich bis zu einer Raststätte durchschlagen und per Anhalter nach München fahren. Nach weiteren zehn Minuten war klar, dass ich das nie schaffen würde. Mir war elend kalt. Meine Zehen spürte ich schon nicht mehr, und meine Jeans waren nass bis übers Knie. Ich fühlte einen leisen Schwindel über mich gleiten und ahnte, dass ich etwas für meinen Blutzuckerspiegel tun musste. Verdammt, Kea, schalt ich mich, da sind 80 Kilo auf deinen Hüften, auf die du zugreifen kannst. Irgendwo hatte ich gelesen, dass der Körper erst nach 30 Minuten Bewegung die eigenen Fettreserven angriff. So lange war ich mindestens schon unterwegs. Oder nicht? In der Dunkelheit konnte ich nicht einmal das Zifferblatt meiner Uhr erkennen. Die Angst kam zurück. Feixend trippelte sie neben mir durch den Schnee. War ich allein hier?
Rechts tauchte eine niedrige Mauer aus der Finsternis. Ich ging darauf zu und sackte in einen Graben. Mein Hosenboden wurde klatschnass. Ich hörte das Klappern meiner Zähne, schaufelte mich entschlossen aus dem Graben und wankte auf die Mauer zu. Neben mir lehnte sich die Angst an den rauen Stein.
»Hau ab«, murmelte ich. »Ich kann dich nicht brauchen.«
Angst ließ sich nicht wegschicken. Sie war ein archaischer Begleiter, der das Überleben unserer Art erst ermöglichte. Nur wer Angst hatte, war vorsichtig genug, sich vor Fressfeinden zu verstecken oder zu fliehen. Nur wer Angst hatte, tat sich mit Artgenossen zusammen, um als Gruppe stärker zu sein.
Im Schneegestöber erkannte ich ein paar Grablichter jenseits der Mauer. Wenigstens waren Menschen hier, und wenn es nur die Toten waren, die hier ruhten. Seltsam tröstlich. Ich ging die Mauer entlang. Der Wind fegte mir nun mitten ins Gesicht. Meine Wangen, Lippen und Nase wurden so kalt, dass das letzte bisschen Gefühl aus ihnen wich. Ein Tor schlug im Wind. Ich stieß es auf und betrat den Friedhof. Am anderen Ende sah ich eine Kapelle. Vielleicht war sie unverschlossen und bot für ein paar Minuten Schutz vor Wind und Kälte.
Über Gräbern und Grabsteinen wölbten sich Schneehauben. Normalerweise schlenderte ich gern über Friedhöfe. Sie vermittelten Ruhe und eine stille Eleganz. Aber in der Dunkelheit und dem eisigen Wind, noch dazu mit nassen Jeans, war dieser fremde Friedhof ein furchteinflößender Ort und kalt wie Stahl.
Ich hatte die Kapelle fast erreicht, als ein Schatten aus der Dunkelheit glitt.
»Grüß Gott!«
Ich fuhr zusammen.
»Na, entschuldigen Sie, erschrecken wollte ich Sie nicht.« Eine Frau kam aus dem Dunkel auf mich zu. Ich hätte beinahe über die Schneemütze auf ihrem Kopf gelacht. Auch ihre Schultern waren voller Schnee. Mir wurde bewusst, dass ich genauso frostig aussah.
»Guten Abend«, brachte ich heraus. Meine erfrorenen Lippen machten die Wörter
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