Schweigfeinstill
verabschiedete. Beim Zimmerservice bestellte ich ein Sandwich und ein Kännchen Tee. Zehn Minuten später klopfte es an der Tür. Ich riss dem Kellner die Sachen aus der Hand, gab ihm fünf Euro Trinkgeld. Hunger vernebelte mir die Sinne. Während ich das Lachsbrötchen aß und den heißen Tee trank, sah ich den tänzelnden Schneeflocken vor dem Fenster zu. Ich stellte den Teller weg, sank in die Kissen und genoss die Wärme, die nach und nach in meine ausgekühlten Knochen sickerte. Bestimmt gab es im Hotel eine Sauna, aber ich war zu k. o., um aufzustehen. Während der Schlummer auf mich zutrieb, versuchte ich, Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was Jenny vorhatte. Mit welcher Absicht hatte sie die Pornos heruntergeladen? Hatte Jenny auf These-Girls zugegriffen? Wer betrieb das Portal? Der Mann, der sich Müller nannte? Ich löschte das Licht und blinzelte in das milchige Glänzen, das mein Zimmer erfüllte.
44.
Als brennender Durst mich weckte, zeigte die Uhr 20:32. Ich tappte ins Bad und füllte ein Zahnputzglas mit Leitungswasser. Im Zimmer herrschte eine unglaubliche Hitze. Ich drehte das Thermostat zurück. Draußen schneite es immer noch. Meine Jeans waren leidlich trocken. Ich schlüpfte hinein, zog die Stiefel an und ging hinunter in die Lobby.
Hier herrschte eine Atmosphäre wie auf dem Flughafen eines Landes, in dem Guerilleros das Kommando übernommen hatten. Alle wollten nur noch weg, aber es ging kein Flieger mehr. Immer mehr Menschen drängten aus der Nacht kommend in das Hotel. Der Rezeptionist hatte Verstärkung von zwei Kollegen bekommen. Zu dritt bemühten sie sich, die zornentbrannten Leute zu beruhigen. Nein, sie hätten keine freien Zimmer mehr. Nein, es täte ihnen leid, sie versuchten gerade, einen Fahrdienst zu einer Dependance am Rand von Rosenheim zu organisieren. Interessierte möchten sich bitte in eine Liste eintragen. Tumult. Bitte, meine Herrschaften, es tut uns außerordentlich leid, wir tun das Menschenmögliche. Ich krallte die Finger um meinen Zimmerschlüssel und dankte dem Himmel, an diesem Abend zu den Privilegierten zu gehören, während ich mir eine Zeitung vom Tresen nahm und mich in einen Sessel verkroch.
»Vom Fach?«
»Hm?« Ich sah hoch. Ein Mann in meinem Alter, die Locken hinter die Ohren gestrichen, setzte sich in den Sessel neben mir.
»Sie sind vom Fach, nehme ich an.« Er lachte. »So, wie sie die Seiten absuchen – wie ein Scanner.«
»Journalist?«, fragte ich, neugierig geworden.
Er nickte. »Auch hängen geblieben?« Bevor ich antworten konnte, stellte er ein kleines Transistorradio auf das Tischchen vor uns. »Radio ist immer noch das funktionsfähigste Medium. Batteriebetrieben, überall einsetzbar.« Er grinste. »Nichts gegen das Internet, aber …« Musik dudelte. »Uns Nachrichtenmachern kann ja nichts Besseres passieren, als an vorderster Front dabei zu sein, stimmt’s?«
»Hörfunkjournalist?«, fragte ich.
»Genau. Und Sie?«
»Freelance.« Man muss den Leuten nicht gleich die ganze Wahrheit in die Ohren stopfen.
Er drehte an seinem Apparat und kam mir vor wie ein Pfadfinder auf Treck, der auf Nachrichten aus der Zivilisation fieberte. Ich vertiefte mich in die Zeitung, als der Nachrichtensprecher verkündete, dass es 21 Uhr sei. An vorderster Stelle standen der Schneesturm und der Straßenverkehr, der vor der Allgewalt von Mutter Natur kapituliert hatte. Der Radiobesitzer verdrehte die Augen, als O-Töne vom Münchner Hauptbahnhof zu hören waren. »Natürlich bringen die immer nur das, was in München los ist«, sagte er abfällig. »Was anderes interessiert die nicht.«
Während meine Augen die Schlagzeilen zu ein paar kleineren Artikeln nach Interessantem absuchten, veränderte sich die Stimme des Sprechers.
›München. Im Stadtteil Bogenhausen kam es heute am späten Vormittag zu einem Kapitalverbrechen. Ein scheinbar geistig verwirrter, stummer Mann soll einen etwa 50-Jährigen in einer Garage getötet haben. Die Polizei griff den mutmaßlichen Mörder noch am Tatort auf. Weder zu seiner Identität noch zu der des Opfers machten die Ermittlungsbehörden bislang Angaben. Auch die Motivlage liegt völlig im Dunkeln. Sachdienliche Hinweise …‹
Mein Atem raste. Im Gesicht meines Hörfunkkollegen erkannte ich meine eigene Erregung. Ich schleuderte die Zeitung zu Boden und sprang auf.
»Wo wollen Sie denn hin? Wissen Sie etwas über …«
Ich hieb auf den Liftschalter, quetschte mich
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