Schweigfeinstill
Motiv!« Jassmunds massige Faust schloss sich um eine Portion Erdnüsse. »Sutter hat hier ein paar Brosamen verstreut. Wir haben keinerlei Anhaltspunkte. Nichts! Wir spekulieren.«
Endlich setzte sich Nero. Er war das alles so leid. Vielleicht würde es ihm mehr Spaß machen, mit Jassmund zu diskutieren, wenn er nachher in eine sauber aufgeräumte Wohnung käme, aber bei ihm zu Hause herrschte Chaos. Sobald seine Ordnungsliebe ausgehebelt wurde, entwickelte er diffuse Ängste, die so irreal waren wie die Angst, von der Klospülung in die Unterwelt gesaugt zu werden. Er sollte seinen Resturlaub dazu nutzen, den Umzug voranzutreiben, damit er schnellstmöglich in seiner neuen Wohnung für klare Linien sorgen konnte. Er wollte sich einleben, bis er im Januar seine neue Arbeit antrat. Er hatte Angst vor dem ersten Januar. Er hatte sogar Angst vor dem Silvestertag. Er hatte Angst, dass die Zeit voranschritt, ihm die Eigendynamik seiner Entscheidungen vorführte, ihn mitriss, in ihrem unbarmherzigen Rhythmus aus 24 Stunden. Ein Tag, eine Nacht. Ein Tag, noch eine Nacht. Und ganz sicher kommt jener Moment, da du ein neues Büro beziehst, neue Kollegen vorfindest, dich beweisen musst, Tag für Tag deine Ambitionen polierst, um zu zeigen, was du drauf hast. Albert Ramsmeier hatte neulich mit ihm darüber gesprochen, wie glücklich er sei, seine Karriere hinter sich zu haben. »Die Leute streben nach Karriere, weil es alle tun, weil es peinlich ist, zuzugeben, dass einem die Karriere am Hinterteil vorbeigeht. Die Karriereplanung kostet sie alles, Zeit, Familie, Freunde. Sie gehen mit Leuten essen, die sie am liebsten in die Isar stürzen würden. Sie verbringen Nächte an Konferenztischen, um ihre Biografie abmahnsicher zu machen. Sie lassen Nerven in den VIP-Lounges der internationalen Flughäfen. Sie machen sich in die Hosen vor Angst und Einsamkeit, aber sie tun so, als wäre ihre Tätigkeit ihr höchstes Glück. Karriere kostet das Leben. Solche Leute haben nur eine Karriere, aber kein Leben, verstehst du, Nero?« Nero hatte verstanden und die Zufriedenheit in Alberts Gesicht gesehen, als Tiziana mit einem Stapel Bücher unter dem Arm hereingekommen war und angefangen hatte, mit ihrem unnachahmlichen Temperament eine Geschichte aus der Buchhandlung zu erzählen.
»Diese Laverde ist dir nicht so ganz gleichgültig«, riss Jassmund ihn aus seinen Gedanken.
»Was meinst du?«, fuhr Nero auf.
»Schon gut. Sie ist ja auch süß, mit den Wangengrübchen, wenn sie lacht … Sag mal, Philipps Mutter kommt zu Weihnachten. Du bist natürlich herzlich eingeladen, Heiligabend bei uns zu verbringen, aber wenn dich Lisa stört …«
Nero wusste, dass Jassmunds Heirat eine Notheirat gewesen war. Lisa war schwanger gewesen und hatte Peter Jassmund in die Pflicht genommen. Die Ehe hatte neun Jahre gehalten, bis Lisa mit wehenden Fahnen gegangen war. Philipp wollte bei seinem Vater bleiben.
»Es ist nur, weil wir denken, dass Philipp es gut finden würde, seine Eltern am Weihnachtsabend bei sich zu haben.«
Nero zweifelte daran, dass Philipp das wirklich wollte, aber er sagte: »Ich komme gern, Peter. Das weißt du. Lisa wird mich nicht stören. Eher ich sie.«
Jassmund zuckte die Schultern und wechselte das Thema. »Könnte die Laverde die Autobiografie einer Frau aus dem Milieu schreiben?«
»Milieu?«
»Einer Pornodarstellerin zum Beispiel.«
»Und? Das wollen Kugler und Lehr haben?«
»Das Snuffvideo«, wich Jassmund aus, »wurde mit einem gestohlenen Handy aufgenommen und versendet. Eine Zehnjährige hat ihr Handy gestern Mittag nach der Schule in der U-Bahn verloren, es den Eltern aber erst spät am Abend gebeichtet. Der Handydieb hatte genug Zeit, zu erledigen, was er erledigen wollte.«
Sie schwiegen. Es gab eine Verbindung zwischen Kugler und Lehr, aber sie hatten nicht den zartesten Hinweis, dass sie mit dem Diebstahl von Kea Laverdes Unterlagen oder mit Andy Steinfelder zu tun hatte.
»Peter«, bat Nero nach einer Weile. »Würdest du für mich herausfinden, ob Andy Steinfelder in irgendeiner Form mit der Inhaberin von Immobilien Steinfelder zusammenhängt? Ehemann, Bruder, Schwager?«
Jassmund nickte und zerbiss weitere Erdnüsse. »Karl Schöll sollte Lehr auf einem Foto als den Mann wiedererkennen, der mit Kugler im Piranha gesessen und gewartet hat, dass Kea nach Hause gebracht wird. Quetsch ihn aus«, sagte er. »Auch Frau Laverde könnte den zweiten Mann gesehen haben. Könnte ja sein, dass es wieder dein
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