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Schweine zuechten in Nazareth

Titel: Schweine zuechten in Nazareth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Sthers
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Vater ist verrückt. Ich liebe ihn sehr, aber ich kann verstehen, dass du ihn verlassen hast.
    Bis bald,
    Annabelle

Monique Duchêne an Harry Rosenmerck
    Paris, 27. Mai 2009
    Lieber Harry,
    dein Brief hat mir gutgetan. Es ist lange her, dass wir uns die Wahrheit gesagt haben. Ich will es jetzt meinerseits versuchen.
    Ich hatte immer den Eindruck, die Wahrheit sei vulgär. Das ist es, was ich als Kind beigebracht bekommen habe. Mein Vater trank zu viel, manchmal hat er nichts auf die Reihe bekommen, aber Mama bestand darauf, zu behaupten, er sei zerstreut. Als meine Großmutter schwer erkrankte, hat sie nie darüber gesprochen. Sie hat sich ihre Wangen rosig gepudert, am Ende hat sie sie richtiggehend angemalt, aber sie ließ es nicht zu, dass die Blässe sie besiegte.
    Ich bin wie sie, aber ich habe dazu keine Lust mehr. Ich würde gern aus meiner Haut heraus, wie man einen Morgenmantel abstreift. In meinem Alter … Was die Kleidung angeht, sollte ich besser darauf verzichten, sie abzulegen! Und ich sollte die Wahrheit sagen. Es würde mir ganz sicher helfen, Bekanntschaft mit ihr zu machen.
    Lieber Gruß,
    Monique

Von: [email protected]
    An: [email protected]
    Datum: 28. Mai 2009
    Betreff: Tiere, die die Farbe meiner Wangen haben
    Lieber David,
    anbei der Beweis, dass Papa am Leben ist. Es ist ein Foto, das ich bei Sonnenuntergang aufgenommen habe. Ich finde, dass er gut aussieht, jetzt, wo er älter wird. Der zweite Beweis klebt auf meinen Wangen. Du wünschtest sie dir rosig? Er offenbar auch, denn gleich nach meiner Ankunft hat er mir eine Ohrfeige verpasst. Es war seine Art, mir mitzuteilen, dass er sich Sorgen gemacht hat. Feinfühlig wie immer, voller Zartgefühl.
    Ich sagte ihm, dass er sich einen Telefonanschluss zulegen könnte, dass es damit viel einfacher wäre. Er sagte mir, einfacher wäre es, wenn ich heiraten würde, damit sich jemand anders Sorgen um mich machen könne. Und ich dachte, ich wäre bald so weit, meine Therapie zu beenden. Er braucht sich nicht zu wundern, wenn seine Kinder eine alte Jungfer und ein Schwuler sind.
    Ich bin ins Zentrum von Nazareth gefahren, um ein paar Anrufe zu machen und dir diese E-Mail zu schreiben. Er züchtet wirklich Schweine, kein Zweifel, es sei denn, es sind gut verkleidete Strauße. Und morgen werde ich mir alles genau anschauen, um dir eine Beschreibung liefern zu können, die dieses verrückten Unternehmens würdig ist.
    Unser Vater, Harry Rosenmerck, ist Schweinezüchter in Israel. Wir müssen uns dran gewöhnen.
    Ich sitze auf der Terrasse eines Cafés. Ich träume von einer zweiten ausgestreckten Hand, von einem zweiten Avi. Nein, das ist nicht richtig, ich träume von seiner Hand, ich träume von ihm oder auch von dem Gefühl der Jugend, das er mir wiedergegeben hat. Er ist niemand, dennoch ist er ein wichtiger Mensch in meinem Leben, das weiß ich.
    Deine Schwester
    P. S. Ich hasse diese Kritik. Er schreibt gut, gewiss, aber er schreibt dummes Zeug. Dein Stück ist stark und rein. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden. Aber wenn du Lust hast, ihn zu vernaschen, tu dir keinen Zwang an.

David Rosenmerck an Harry Rosenmerck
    Paris, 1.  Juni 2009
    Lieber Papa,
    als ich klein war, fragte ich dich ständig nach deiner »Abeit«. Erinnerst du dich? Du sagtest »Kardiologe«. Und um mir zu erklären, was das sei, sagtest du, du seist ein Doktor. Es war Mama, die mir eines Tages erklärte, welche Art von Doktor: einer, der die Herzen heilt.
    Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass mit »Herz« ein konkreter Muskel mit Blut, Arterien und ich weiß nicht was sonst noch für realen und ekligen Gruseligkeiten gemeint war.
    Ich hatte gedacht, du würdest verlorene oder kaputte Lieben behandeln. Damit man nicht lange traurig sein müsse. Ich dachte, man brauchte nur zu dir zu gehen.
    Heute Morgen habe ich ein Interview gegeben. Ein Journalist fragte mich, ob ich, wie alle kleinen Jungs, niemals davon geträumt hätte, den Beruf meines Vaters auszuüben. Ich habe ohne Zögern verneint. Ich habe mich getäuscht. In Wirklichkeit übe ich den Beruf meines Vaters aus. Den, von dem ich glaubte, es sei dein Beruf, als ich in einem Alter war, in dem ich dich bedingungslos bewundert habe. Ich heile Herzen mit Worten. Ich verbinde ihre Liebesschmerzen mit meinen eigenen. Und ich lasse sie in dem Glauben, es gäbe

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