[email protected] Datum: 17. Mai 2009
Betreff: Daddyâs Girl
Dear gay Brother,
ich habe mich gestern von Tel Aviv auf den Weg gemacht, um zu Papa zu fahren. Aber zuerst habe ich einen Umweg über Bethlehem gemacht. Dort, wo wir einmal Weihnachten gefeiert haben, geschart um eine Krippe in OriginalgröÃe, zusammen mit Tausenden von anderen Leuten. Von heute an werde ich mir diese Krippe vorstellen müssen, wie sie durch einen endlosen Betonblock in zwei geteilt ist. Ich wollte diese Mauer sehen. Wollte sehen, ob sie tatsächlich da ist. Ich habe mich noch nie zuvor so schlecht gefühlt, David. Ich schäme mich dafür, dass wir so etwas tun konnten. Denn es sind wir, in den Augen der ganzen Welt. Wir, die Juden.
Die Israelis nennen diese Mauer gader haâharfrada , was im Hebräischen »Trennungszaun« bedeutet. Die Palästinenser bezeichnen diese Mauer als jidar al-fash al-unsuri , was man mit »Mauer der Rassentrennung« übersetzen könnte.
Mehr als achtzig Prozent der israelischen Gesellschaft haben diesen Mauerbau befürwortet. Menschen, die sich sonst nie einig sind! Dieses Land ist das selbstkritischste auf der Welt. Aber hier haben sie eine Gemeinsamkeit gefunden. Und wobei? Bei einer Mauer! Stell dir nur die Verzweiflung vor, die es braucht, damit ein Volk, eine Bevölkerung, die Ablehnung und Fremdenhass erfahren hat, zu einem Volk wird, das sich in puncto Ausgrenzung einig wird.
Ich steckte drei Stunden in einem gemieteten Wagen vor einer Grenzstation fest, während es auf der Spur neben mir in regelmäÃigen Abständen vorwärts ging. Des Rechts beraubt, sich zu bewegen. Ohne Sinn. Nur um uns zu zeigen, dass sie allmächtig waren. Ein paar pickelige israelische Soldaten, die mit ihrer Gleichgültigkeit Frauen, Greise und starke Männer demütigten. Das Klima drückte. Ich war niedergeschlagen. Als ich endlich an der Absperrung angekommen bin, hat mich der Typ dort nicht passieren lassen. Er fragte, was ich dort »bei den anderen« wollte. Ich sagte: »nur mal gucken«. Er hat mir geantwortet, dass ich in Kauf nehmen müsste, nicht wieder nach Israel einreisen zu dürfen. Da habe ich Angst bekommen. Ich bin vor dieser Mauer stehen geblieben und habe geweint. Eine Soldatin hat mich im aggressiven Tonfall angesprochen. Ich habe ihr erklärt, dass ich schon als Kind dort gewesen war und dass man damals weit, sehr weit dahinter gucken konnte. Jetzt ist es so, als sei die Zukunft gestorben. Sie hat mir erzählt, dass die Idee mit der Mauer nach dem Attentat vom Juni 2001 entstanden ist, als ein palästinensischer Kamikaze sich vor einer Diskothek inTel Aviv in die Luft sprengte und dabei mehr als zwanzig Personen tötete, die meisten von ihnen Oberstufenschüler, die herumgeknutscht haben. WeiÃt du noch? Als irgendjemand diese Idee mit der Mauer aufbrachte, haben sich alle darauf gestürzt. Man greift nach jedem Fitzelchen Stoff, um die Tränen abzuwischen, aber dieses da hat sie blind gemacht. »Ja, es ist wahr, es gibt sehr viel weniger terroristische Angriffe. Es funktioniert, aber man erstickt auch irgendwie.« Das sagte sie mir ehrlich ins Gesicht. »Hier in Israel träumt man niemals von Morgen, man weiÃ, dass man sterblich ist. Aber man tut, was man kann.«
Ihr Schmerz und ihre Härte sind mir egal. Ich will nicht, dass das Land, das uns repräsentiert, ein versiegeltes Grab ist. Ich will diese Mauer abreiÃen, ich würde sie am liebsten in die Luft jagen. Ich wünschte, ich hätte einen magischen Filzstift. Um damit eine Tür in die Mauer zu malen und zu öffnen. Und dass die ganze Mauer wie Bauklötze zusammenkracht. Holterdiepolter. Sie sieht aus wie eine Absperrung aus einem schlechten Science-Fiction-B-Movie, wie alle Gewissensbisse der ganzen Welt an einem Stück. Sie ist unüberwindbar. Wo sind bloà die Hippies? Gibt es denn keine Jugend, die Frieden will? Leicht zu sagen, ich weiÃ. Wir sind doch hier, um mit dem Opfersein aufzuhören, aber wir schaffen es nicht.
Die Berliner Mauer hatte zum Zweck, seine Bevölkerung daran zu hindern, zu gehen. Die israelische Mauer hindert die Menschen daran, hineinzukommen.
Wir sind wie Kinder, die sich kichernd in einem Schrank verstecken. Während das groÃe Versteckspielen im Gange ist. Es ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Ich habe die Fahrt nach Nazareth fortgesetzt. Welch ein