Schweinehunde / Roman
müde.
»Jetzt hören Sie aber auf, Anni. Ja, ich bin mir sicher. Sie zeigen sich und gehen Ihres Weges. Die sollen nur nicht glauben, dass Sie sich verstecken. Ich will nicht riskieren, dass nach Ihnen gefahndet wird, oder auf was für eine abstruse Idee die kommen mögen. Sagen Sie mir lieber etwas über die Stimmung.«
»Wo?«
»In der Redaktion, der Bevölkerung, überall. Es heißt doch, Sie hörten das Gras wachsen.«
Anni Staal wies das Lob von sich, das ihr dann doch zu weit ging.
»Es wird so viel geredet, aber der Link zu unserer Homepage ist schon am Glühen, oder wie man das bei diesen Links nennt. Hunderttausend Zugriffe, und das ist erst der Anfang. Die ganze IT-Abteilung ist wegen des Ansturms zusammengetrommelt worden. Sie haben unseren Videoserver sogar bereits skaliert, um die Wartezeit zu verkürzen.«
Der Direktor interessierte sich nicht für Technik.
»Wunderbar, ganz wunderbar, aber was denken die Leute? Ich meine, wenn sie die Filme gesehen haben. Gibt es Verständnis für unsere Vorgehensweise? Haben wir die Leser erreicht?«
»Der Filmausschnitt aus dem Kleinbus mit diesem Thor Gran hat die Gemüter erhitzt. Sie wissen schon, die Szene, in der er sich entschließt, den kleinen …«
»Seien Sie ruhig, diesen Satz will ich nie mehr hören, nie mehr.«
»Dann sind Sie wie die anderen, so reagieren die meisten.«
Der Direktor sagte spitz: »Lassen Sie uns über etwas anderes reden.«
Anni Staal ignorierte die Aufforderung.
»Thor Gran hat ihnen die Sprache geraubt, hat sie in den Dreck gezogen. Diese Worte werden sie nie wieder in den Mund nehmen. Ja, man erträgt kaum den Gedanken daran.«
»Sind Sie jetzt auch noch Psychologin geworden?«
»Nein, aber ich habe mit einer gesprochen.«
»Okay, vermutlich haben Sie recht. Auf jeden Fall ist das ekelerregend.«
»Aber auch entscheidend. Das unmittelbare Mitleid der Menschen löst sich an diesem Punkt in nichts auf, und sie verfolgen die Hinrichtung mit hartem Blick. Ihre Augen drücken dabei stille Akzeptanz aus, manchmal sogar mehr als das. Ich bekomme eine ganze Reihe Mails.«
»Tja, die Meinungsfreiheit muss ausgenutzt werden, und im Grundgesetz steht nichts davon, dass man sich von einem Mord in jedem Fall distanzieren muss.«
»Das tun sie auch nicht, das kann ich Ihnen versichern, im Gegenteil. Aber diejenigen, die mir schreiben, gehören natürlich zu den Extremsten. Trotzdem denke ich, dass die meisten Menschen den Toten keine Träne nachweinen. Und … ich bin mir sicher, dass viele – wie Sie auch – diesen einen Satz, den sie am liebsten vergessen würden, noch im Hinterkopf haben, wenn sie sich zu diesem Thema äußern.«
Der Direktor lächelte etwas gezwungen und warf noch einmal einen Blick auf seine Uhr. Er sehnte sich nach seinem Sofa. Vergeblich spähte er die Straße hinunter. Es war niemand zu sehen.
»Und? Ist es Ihnen gelungen, die Nachrichten vor der Konkurrenz geheim zu halten?«, fragte er.
Anni Staal zögerte einen Moment, bevor sie antwortete.
»Ich denke schon. Wir haben uns alle Mühe gegeben. Der Straßenverkauf an den Kiosken in Kopenhagen wurde gestern Abend ausgesetzt, und Vertrauenspersonen haben die Zeitungen bewacht, die abends mit dem Zug in die Provinz verschickt worden sind. Außerdem durfte keiner der Mitarbeiter eine Zeitung mit nach Hause nehmen. Ich denke, das ganze Land hat etwa zeitgleich einen Schock erlitten. Hatten Sie Angst vor einer einstweiligen Verfügung?«
»Nicht direkt Angst, aber so ganz klar haben Sie sich nicht ausgedrückt, Anni. Ist die Nachricht trotz unserer Anstrengungen vorher durchgesickert?«
»Nein, ich weiß nicht. Die Polizei hat es auf jeden Fall kalt erwischt. Viele der am Rande beteiligten Beamten wundern sich, dass der Staat immer irgendwie hinterherhinkt, wenn hinsichtlich der Pädophiliemorde etwas Wesentliches passiert. Hauptkommissar Simonsen scheint den Fuß nicht gerade auf dem Gaspedal zu haben. Und der Justizminister war ganz offensichtlich auch nicht vorgewarnt. Ich habe im Radio gehört, wie er sich heute Morgen einen Weg durch eine aufgeregte Journalistenmeute bahnen musste. Der reinste Spießrutenlauf. Er hat ein paar üble Flüche von sich gegeben.«
»Armer Mann, erst wird er umgangen und dann geschlachtet.«
»Politiker haben eben keine Schonzeit, außerdem wird eine Geschichte erst dann richtig interessant, wenn das Blut eines Ministers fließt. Dieses Fluidum verleiht persönliches Prestige und führt zu manch einer
Weitere Kostenlose Bücher