Schweinehunde / Roman
Alte schnaubte.
»Grazien! Glauben Sie, ich hätte hier Grazien stehen? Drehen Sie die mal um.«
Als sie der Anweisung folgte, fiel ein Schlüssel zu Boden.
»Und jetzt?«
»Unter dem Bett, die große Holzkiste mit den Beschlägen, ich schaff das selbst nicht mehr.«
Die Comtesse holte die Kiste hervor und schloss sie gespannt auf. Zuoberst lag eine handgemachte Broschüre über eine dreiwöchige Ferienreise nach Chiang Mai in Thailand. Zwei der Seiten zeigten asiatische Kinder. Sie hatten Nummern.
Der Blick der Comtesse verweilte einen Augenblick auf dem Jungen oben rechts in der Ecke. Sie konnte nicht anders, obwohl er sich kaum von den anderen unterschied. Ein ganz gewöhnlicher, lächelnder Junge mit weißen Zähnen und viel zu kindlichen Zügen.
Die alte Dame wandte der Kiste den Rücken zu.
»Ich bin nicht dafür verantwortlich, wenn er da irgendwelche Schweinereien aufbewahrt hat. Erzählen Sie mir jetzt von Dimitrow, wie hat Ihr Großvater ihn kennengelernt?«
»Wenn Sie wollen, fange ich mit der Folterung in einem bulgarischen Gefängnis an, im Jahre 1946. Ich habe einiges darüber gehört. Danach müssen wir aber noch einmal über das hier reden. Vorher muss ich noch jemanden anrufen.« Ihre Gastgeberin fauchte, die Comtesse telefonierte, und Konrad Simonsen machte den letzten Haken.
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46
P auline Berg war zum ersten Mal in ihrem Leben bei einem Handballmatch. Sie war zeitig gekommen und hatte neugierig von ihrem Platz aus beobachtet, wie sich die Halle langsam mit den Anhängern der Heimmannschaft füllte. Um sie herum wurde über das bevorstehende Spiel gefachsimpelt. Einige redeten aber auch über die Videos des Tages und nicht selten drangen Worte des Hasses an ihr Ohr.
Die brauchen einem echt nicht leidzutun. Die haben gekriegt, was sie verdient haben. Endlich hat sich mal jemand ein Herz genommen und diese Schweine bestraft. Es tut gut, diese Schweinehunde baumeln zu sehen. Denen sollte man wirklich die Eier abschneiden.
Sie fühlte sich fremd. Fehlplaziert inmitten eines aggressiven Mobs, der sich so grundlegend von den Menschen unterschied, die zu einem Tanz- oder Ballettabend kamen. Allein schon ihre Bekleidung war beängstigend. Direkt hinter ihr saßen drei Frauen mit Kriegsbemalung. In ihren schrillen Trikots und den dazugehörigen Halstüchern sahen sie eher wie Rachegöttinnen als wie Sportfans aus. Der Mann neben ihr ließ seinen Bauch ungeniert über den Gürtel seiner weißen, verwaschenen Maurerhose hängen und klatschte sich manchmal mit seinem zusammengerollten Programmheft auf die Schenkel, was nichts Gutes verhieß. Der Platz rechts neben ihr blieb lange leer, doch im letzten Augenblick kam noch eine Bohnenstange von Mann, der sich zwischen den Leuten hindurchschlängelte und sich mit einer eleganten Bewegung an der Reihe der Sitzenden vorbeischob, bis er neben ihr war. Er lächelte sie an und lispelte ein paar Worte. Sie nickte kurz und erwiderte sein Lächeln mechanisch.
Nach dem Anpfiff versuchte sie, das Spiel zu verfolgen, kam aber in Anbetracht der eingeübten, schnellen Spielzüge nicht ganz mit. Dann explodierte das Publikum plötzlich in einem kollektiven Aufschrei. Erschrocken presste sie sich auf ihren Sitz, während der Maurer den Trubel ausnutzte, um ihr an die Schulter zu fassen, und die dröhnende Lautsprecherstimme einen scheinbar allseits bekannten Spruch zum Besten gab.
Ihr großgewachsener Nebenmann reagierte nicht, vermutlich hielt er zur anderen Mannschaft.
Mit der Zeit wurde sie aber doch von der Stimmung angesteckt, es gelang ihr sogar einigermaßen, das Spiel und die Geräuschkulisse der beständig kommentierenden Zuschauer zu verstehen, so dass sie bald die leidenschaftlichen emotionalen Reaktionen und kollektiven Bewegungsmuster zu genießen begann. Wie die Blätter an einem Baum, die sich vollkommen einheitlich nach dem Wind richten. Vorsichtig versuchte sie mitzuklatschen, bei Toren aufzuspringen und bei passenden Gelegenheiten aufzuheulen.
Die Zuschauer sammelten sich in der Pause, schonten ihre Stimmen und füllten ihre Vorräte auf. Sie kauften Popcorn, Schokolade, Äpfel und Bananen, während Lieder durch die Lautsprecher krächzten, die noch ihre Großmutter gut gefunden hätte. Sie lächelte den Maurer an, der ihr freundschaftlich einen Klaps gab.
Vom Beginn der zweiten Hälfte an war sie bereit. Die ganze Halle brodelte, und sie schrie mit den anderen mit. Vorläufiger Höhepunkt war der längst überfällige Ausgleich der
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