Schweizer Ware
Pensionierung – der eine Wächter hatte nur noch müde 18 Jahre abzusitzen – würde keiner einen fristlosen Rausschmiss riskieren. Wie lange die Drohung aber wirken würde, war ungewiss. Vielleicht würde doch einmal einer von ihnen weich werden und ein paar Hundert Franken von einer Zeitung für seinen Bericht ergattern wollen.
Auch Regazzoni, obwohl er den entscheidenden Hinweis gegeben hatte, war nicht sonderlich scharf auf eine namentliche Erwähnung. Natürlich hätte er es ganz gern gesehen, wenn im Fernsehen erwähnt worden wäre, dass man den Verbrechern von der Alpensonne nur dank seiner Beobachtungs- und Kombinationsgabe auf die Spur gekommen war – na gut, ihm und den anderen drei von der Hörnli-Aktion. Aber er allein war es, der gemerkt hatte, dass Anita Kägi ausgeschlachtet worden war. Ja, richtiggehend ausgeschlachtet. Das war sein Verdienst. Ohne ihn wäre der Fall nie gelöst worden. Aber dann hätte man auch der ganzen Welt erzählen müssen, dass er nachts um halb drei an einer nackten alten Toten herumgeschnipselt hatte. Das hätte ein wenig peinlich werden können.
Trotzdem.
Er hätte seinen Fachkollegen schon wahnsinnig gerne erzählt, wie er draufgekommen war. Das war eine echte Meisterleistung, die nicht jedem gelungen wäre. Seinem geschulten Auge war nicht entgangen, dass die Leiche etwas Unnatürliches, selbst im Tod, hatte. Es hatte einen Moment gedauert, bis er eins und eins hatte zusammenzählen können. Auf den Fotos hatte er es dann erkannt. Die Augäpfel fehlten! Und zwar komplett. Die Augenlider waren deshalb tief in die leeren Augenhöhlen gefallen. Das konnte aber unmöglich in den wenigen Tage n nach der Beerdigung geschehen sein. Kein Augapfel verwest so rasch und spurenlos. Selbst die gierigsten Maden und Insektenlarven können nicht so schnell fressen. Die Augäpfel fehlten, weil sie eindeutig von Hand entfernt worden waren. Und auch die Beine waren abnormal eingefallen. Die beiden Oberschenkel waren nur n o ch Haut – keine Knochen. Er sah das deutlich und folgerte richtig. Diese Frau war ausgenommen worden, wie man einen alten Bentley ausschlachtet. Fein säuberlich. Die wichtigen Teile waren herausoperiert und einer Wiederverwertung zugeführt worden. Klassische Schweizer Markenware, die auf dem Schwarzmarkt Höchstpreise erzielte.
Die Mediziner in der Alpensonne arbeiteten bei den Operationen sehr präzise. Echte chirurgische Feinarbeit, das musste Regazzoni anerkennen. Nur, wie sich herausstellte, entnahmen sie in den allermeisten Fällen die Gewebe ohne Einwilligung der Spender. Und weil sie damit auch noch Handel betrieben, verstießen sie gleich gegen mehrere Artikel des Schweizer Transplantationsgesetzes. Wer so etwas tut, verliert unweigerlich seine Approbation, wird nie wieder als Arzt arbeiten.
Natürlich waren viele »Spenden« der alten Leute kaum mehr zu verwenden. Aber trotz des Nachschubs an jugendlichem Material aus ein paar ganz dunklen Gegenden auf dieser Welt, herrschte an menschlichem Gewebe oder Körperteilen vor allem zu Forschungszwecken immer Mangel. Knochen, Sehnen, Hautstücke, Herzklappen, Gehörknöchelchen, Augenhornhäute, alles konnte man verwenden.
Eine Leiche war bis zu 100.000 Franken wert.
Augäpfel nutzte man etwa zum Test neuartiger Laserbehandlungen, Hautgewebe war sowieso immer gut zu gebrauchen und auch Knochenmarkszellen waren heiß begehrt, in alten Menschen jedoch kaum mehr vorhanden. Aber selbst spröde Knochen setzte man zum Test neuer Operationsmethoden oder zum Herstellen von Knorpelextrakten und Knochengranulat ein. Wer würde schon nachforschen, ob die von einem jungen oder alten Menschen kamen. Obskure Institute in ganz Europa waren scharf auf echtes Menschenmaterial, egal wie alt es war. Hauptsache man konnte daran noch irgendwelche medizinischen Experimente durchführen oder Anti-Aging -Forschung betreiben und die von den Kontrollbehören gewünschten Protokolle mit halbwegs sinnvollen Daten füllen.
Der beste Handelspartner aber war Russland. Die Knorpelextrakte liefen spitzenmäßig. Firsov hatte erst kürzlich den Preis erhöhen müssen. Ein privates Institut, das Arthrosetherapien erforschte, bemühte sich sogar um die alleinigen Nutzungsrechte. Auch Knochenmasse ließ sich bestens verkaufen. Mit solcherlei Material reiste Firsov nach Russland und spritzte kranken Russen extra zusammengestellte Hormon- und Proteinbomben. Einmal Knieschmieren kostete 800 Euro. An Patienten mangelte es nicht, und Firsov
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