Schwemmholz
werden sollte. Judith schob ihr den Umschlag hin. Er enthielt acht Tausendmarkscheine.
»Sie sind zum ersten Mal hier bei uns?«
»Ja«, antwortete Judith. »Allerdings habe ich gedacht, ich treffe jemanden, den ich von früher her kenne. Wir waren befreundet, und ich weiß, dass sie hier gearbeitet hat.«
»An den Namen erinnern Sie sich nicht?«
»Sie hieß Vera«, sagte Judith. »Sie hat auch dunkle Haare, ist aber ein bisschen größer als ich. Aber es ist schon über zehn Jahre her. Wir haben uns aus den Augen verloren, weil ich dann zum Studium nach Berlin gegangen bin.«
Die Angestellte sah sie überrascht an. »Ich weiß, wen Sie meinen. Aber sie ist schon vor ein paar Jahren bei uns ausgeschieden. Sie hat geheiratet und lebt irgendwo auf einem Bauernhof in Oberschwaben. Vochezer heißt sie jetzt.«
»Sagen Sie bloß, sie ist eine Bäuerin geworden? Mit Kühen, Kindern und Schweinen? Ich glaub es nicht.«
Die Angestellte sah sie verlegen an. »Kinder hat sie keine. Soviel ich weiß. Aber sie hat auch mit keiner von uns mehr Kontakt. Sie ist sehr abweisend geworden.«
Karl-Heinz Oettinger wohnte in Stuttgart-Degerloch, in einer Straße mit bürgerlich-unauffälligen Häusern und zugewachsenen Gärten in Hanglage nach Süden.
Tamar, die zuvor angerufen und ihr Kommen angekündigt hatte, parkte ihren Wagen entlang des Gartenzauns. Von der Haustür kam ihr ein knapp mittelgroßer, kompakter Mann mit einem kugelrunden kahlen Kopf entgegen und packte ihre Hand. Tamar hatte selbst einen kräftigen Griff, aber diesmal war es ihr, als seien ihre Finger in einen Schraubstock geraten.
Oettinger führte Tamar in das Haus. Die Wände der winzigen Diele und des kaum größeren Wohnzimmers waren dicht behängt mit Fotografien, und die altersdunklen Möbel voll gestellt mit Pokalen und gravierten Silber- oder Zinntellern. Tamars Gastgeber näherte sich der Siebzig. Fotografien und Trophäen ließen ein Leben vorüberziehen, dessen einziger Mittelpunkt der Boxring war.
Der alte Trainer bot Tamar einen Platz auf einem grünen Sofa an, dessen Federn sie tief versinken ließen. Dann ging er in die Küche und kam mit einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern zurück. Er sah Tamars Blick, mit dem sie Wände, Fotografien und Pokale musterte. »Seit meine Frau tot ist«, sagte er entschuldigend, »hab ich doch gar nichts anderes mehr.«
Es ist genau umgekehrt, dachte Tamar. Die Frau ist gestorben, weil es zwischen all diesem Krempel für sie gar keinen Platz mehr gab. Irgendwann ist sie zwischen all diesen Pokalen und Silbertellern einfach erloschen. Oder verhungert.
Sie sei wegen Stefan Rodek gekommen, sagte sie dann. »Da gibt es eine sehr unschöne Geschichte, und wir wissen immer noch nicht, ob er darin verwickelt ist oder nicht.«
Dass Stefan Ärger bekommen habe, wisse er, meinte Oettinger. »Aber in der Zeitung stand, sie haben ihn freigesprochen.«
»Leider gibt es noch immer offene Fragen«, antwortete Tamar. »Vor allem müssen wir wissen, mit wem Herr Rodek näheren Umgang gehabt hat.«
»Der nähere Umgang also ist das Problem«, sagte Oettinger. »Ich hätt’ es mir denken können. Das war bei Stefan schon immer so. Es gab eine Zeit, da hab ich gedacht, der ist es.« Er stand auf, ging zur Wand, nahm ein Bild ab und brachte es Tamar. Es war eines der Fotos, auf dem ein Ringrichter einem drahtigen Kerl den Arm hochhielt. Das unbewegte, fast ebenmäßige Gesicht des jungen Mannes, der gerade zum Sieger erklärt wurde, hatte nicht einmal eine Schwellung davongetragen. Seine dunklen Augen sahen gleichgültig zum Fotografen
hin, so, als habe der Kampf, der hinter ihm lag, schon keine Bedeutung mehr. Es war der gleiche Blick, mit dem Rodek den Polizeifotografen betrachtet hatte.
»Vielleicht war gerade das der Fehler. Ich meine, dass wir zu viel erwartet haben. Dass wir ihm zu früh beigebracht haben, er sei etwas Besonderes.« Oettinger nahm das Bild und betrachtete es kopfschüttelnd. »Es gibt keinen härteren Sport als Boxen. Schon das Training stehen die meisten nur durch, wenn sie wirklich von unten kommen und wirklich nach oben wollen. Es ist tödlich, wenn einer glaubt, ihm gehört schon die Welt. Nirgendwo wird einer so schnell auf den Boden zurückgeholt wie im Boxring.«
Er stand wieder auf und hängte das Bild zurück an die Wand. »Aus und vorbei. Bei Stefan waren es die jungen Leute mit Geld, die ihn ruiniert haben. Ich glaube, Groupies sagt man dazu. Männliche Groupies, die dachten,
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