Schwer verliebt: Roman (German Edition)
ihn dort in seiner Nische sitzen sehe – nicht so wie bei dem Anblick von Lindsays Kopf im Kochtopf – das war Horror. Nein, der Anblick meines Vaters macht mich einfach traurig.
Das liegt wahrscheinlich daran, dass er so traurig aussieht. Traurig und dünn. Er ist nicht mehr der robuste Golfspieler von vor zwanzig Jahren, sondern nur noch die Hülle dieses Mannes, dünn, mit grauen Haaren und weißen Strähnen in Bart und Schnurrbart.
Als er mich jedoch in der Tür stehen sieht, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er setzt ein Lächeln auf – ein Lächeln, das seine traurigen, müden Augen, die so blau sind wie meine eigenen, jedoch nicht erreicht.
Sein Blick ist vorsichtig und wachsam, wie meiner auch.
Was sagt man zu dem Vater, den man so lange nicht gesehen hat, zu dem man eigentlich nie eine Beziehung hatte, auch nicht, als er noch zu Hause war?
Ich sage: »Hey, Dad« und setze mich ihm gegenüber. Was soll ich sonst sagen?
»Heather«, sagt er und greift über den Tisch nach meiner Hand, als ich mir die Handschuhe ausgezogen habe. Seine Finger sind warm, und ich erwidere lächelnd seinen Händedruck.
»Das ist ja eine Überraschung«, sage ich. »Wann bist du herausgekommen?«
»Letzte Woche«, sagt er. »Ich wollte dich schon früher anrufen, aber… na ja, ich war mir nicht sicher, ob du dich freuen würdest, mich zu sehen.«
»Aber natürlich freue ich mich, dich zu sehen, Dad.« Ich habe ihm doch nichts vorzuwerfen. Na ja, ich meine, nicht wirklich. Es war nicht besonders cool von ihm, all die Jahre keine Steuern zu bezahlen, aber schließlich war es nicht mein Geld, auf das er keine Steuern bezahlt hat. Oder das er, wie Mom, gestohlen hat. »Seit wann bist du hier? In der Stadt, meine ich?«
»Seit heute Morgen. Ich bin mit dem Bus gekommen. So
habe ich wenigstens was von der Landschaft gesehen.« Die Kellnerin kommt an den Tisch, und er blickt mich fragend an. »Hast du schon zu Abend gegessen?«
»Ja«, erwidere ich. »Ich bin satt. Ich hätte nur gern eine heiße Schokolade mit Sahne«, sage ich zu der Kellnerin.
Dad bestellt Hühnersuppe mit Nudeln zu seinem Kaffee. Die Kellnerin nickt und geht wieder. Sie wirkt zerstreut. Wahrscheinlich macht sie sich Sorgen wegen des Schneesturms, der jetzt jeden Moment losbrechen wird, wie uns der Wettermann von New York One im Fernseher über der Theke versichert.
»Ach so«, sage ich, »mit dem Bus.« Aus irgendeinem Grund muss ich ständig daran denken, wie auch Morgan Freeman mit dem Bus in dem Film Die Verurteilten in die Freiheit gefahren ist. Na ja, so überraschend ist das nun auch wieder nicht, weil ja Morgan Freeman ebenfalls einen Häftling gespielt hat. »Verstößt du denn nicht gegen die Bewährungsauflage, wenn du das Bundesland Florida verlässt?«
»Mach dir um mich keine Sorgen, Kind«, sagt Dad und tätschelt mir die Hand. »Ich habe zur Abwechslung mal alles unter Kontrolle.«
»Toll«, sage ich. »Das ist toll, Dad.«
»Was hörst du so von deiner Mutter?«, will er wissen. Ich stelle fest, dass er mir nicht in die Augen blickt, als er das fragt, sondern sich intensiv mit seinem Kaffee beschäftigt.
»Meinst du, seitdem sie mit dem Geld von meinem Bankkonto nach Buenos Aires abgehauen ist?«, frage ich. »Nicht besonders viel.«
Kopfschüttelnd blickt Dad mich an. »Das tut mir leid, Heather«, sagt er. »Du weißt gar nicht, wie sehr. Deine Mutter
ist eigentlich nicht so. Ich weiß gar nicht, was in sie gefahren ist.«
»Ach nein? Also, ich kann es mir schon denken«, erwidere ich. Die Kellnerin bringt seine Nudelsuppe und meine heiße Schokolade.
»Ja?« Dad macht sich über seine Suppe her, als sei es seine erste Mahlzeit des Tages. Dafür, dass er so dünn ist, hat er einen ziemlich guten Appetit. »Und was meinst du?«
»Ihre Milchkuh hat keinen Plattenvertrag mehr bekommen«, erwidere ich.
»Nein, wirklich, Heather«, sagt mein Vater und blickt von seiner Suppe auf. »Sag so etwas nicht. Deine Mutter liebt dich sehr. Sie war nur nie eine starke Frau. Dir dein Geld wegzunehmen, war ganz bestimmt nicht ihre Idee. Ich glaube mit Sicherheit, dass dieser Ricardo sie dazu überredet hat.«
Ich bin eigentlich vom Gegenteil überzeugt, sage aber nichts, weil ich keine Lust habe, mich mit meinem Vater zu streiten.
»Und du?«, frage ich stattdessen. »Hast du von ihr gehört?«
»Schon seit einer ganzen Weile nicht«, antwortet Dad. Er öffnet das Päckchen mit Crackern, das mit der Suppe serviert worden ist.
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