Schwere Wetter
Säulen geschmückten Gang zum
Nebenausgang. Lüder musste zwei Müttern mit ihrem Kinderwagen ausweichen, die
staunend den beiden durch den Gang hetzenden Männern hinterhersahen. Dabei
strauchelte er leicht und prallte mit der Schulter schmerzhaft gegen eine der
Säulen.
Die Automatiktür
am Ende des Ganges schloss sich hinter einem älteren Paar. Der Verfolgte
schlüpfte durch den Spalt, während Lüder abzubremsen versuchte und leicht gegen
das Glas prallte, bevor die Automatik reagierte und die Tür sich wieder
öffnete. Das waren nur Augenblicke gewesen, die dem Mann aber ein paar Meter
zusätzlichen Vorsprung einbrachten.
Er rannte über den
Altstädter Markt, der im Sommer ein beliebtes Ziel für Gäste der
Straßengastronomie war. Lüder folgte ihm und hatte weder einen Blick für das
Glockenspiel am Treppengiebel des Alten Rathauses noch für die leere Bäckerei,
über deren trostlos wirkendem Schaufenster die Leuchtreklame verriet: »Backen
mit Tradition«. Die hatte irgendwann ein unrühmliches Ende gefunden.
Der Mann lief
zwischen dem verlassenen Hertie-Gebäude und einer Apotheke entlang, passierte
die Schaufenster der Landeszeitung, in denen die dort ausgehängte Zeitung am
Folgetag sicher von dieser Verfolgungsjagd berichten würde.
Lüder ruderte mit
den Armen, um die Balance zu halten, als er die Passanten auf diesem engen
Stück Fußgängerzone umkurvte. Wegen des Sprints schlug ihm sein Herz bis zum
Hals. Er hatte heftige Seitenstiche und rang nach Luft. Der Mann vor ihm war
durchtrainiert und sicher zehn Jahre jünger. Zentimeter um Zentimeter wuchs
dessen Vorsprung.
An der Ecke beim
Fotoladen bog der Verfolgte abrupt in eine kleine Gasse ab. Als Lüder die
Stelle erreichte, sah er, wie der Mann über das unebene Pflaster der engen
Straße jagte und Mühe hatte, auf der kleinen Rinne in der Mitte, die dem
Abfluss des Oberflächenwassers diente, das Gleichgewicht zu halten.
In einem
verschmutzten, öden Fenster gähnte ein Schild »Zu verkaufen«. Auch der Rest der
Gasse war wenig anheimelnd. Zugenagelte Fenster, beschmierte Fassaden, brüchige
Mauern und zerschlagene Holzzäune säumten den Weg. Vor einem Gebäude mit einer
Seitenfront, von der Farbe und Putz gleichermaßen bröckelten, befand sich zur
Rechten ein Holzzaun mit einem Durchgang, der offenbar zu den unsichtbaren
Hinterhöfen führte. Neben der sich auflösenden Häuserwand stand einsam eine Pumpe,
die in früheren Zeiten den Bewohnern als Wasserquelle gedient haben mochte. Der
Schwengel war mit einer Kette an der Holzwand gesichert.
Plötzlich stockte
der Verfolgte. Mit weiten Sprüngen näherte sich Lüder. Der Mann drehte sich um
und stand mit dem Rücken zur Hauswand. Sein Atem ging keuchend. Aus dunklen
Augen funkelte er Lüder an, der jetzt einen Meter vor ihm stand.
Lüders Lungen
rasselten, sein Atem ging stoßweise. Er japste gleich seinem Gegner nach Luft
und ließ die Schultern leicht vorfallen. Die Arme hingen am Körper herab.
»Polizei«, sagte
Lüder. Jede Silbe kam stoßweise über seine Lippen.
Sein Gegenüber
rang ebenfalls nach Luft. Trotzdem schien es Lüder, als würde der Mann sich
schneller erholen.
Es machte keinen
Sinn, eine Formel herunterzubeten, die in Polizeifilmen in solchen Situationen
telegen aufbereitet hervorgebracht wird. Der Mann wusste, wer Lüder war und
warum er ihn verfolgte.
In dieser
schmutzigen Gasse war die Jagd zu Ende.
Noch einmal atmete
Lüder tief durch, bevor er nach den Einmalfesseln greifen und sie dem Mann
anlegen wollte.
Diesen winzigen
Augenblick nutzte sein Gegenüber, um mit einem aggressiven und dynamischen
Vorwärtsschritt die gesamte Energie der Streckung nach vorn zu bringen.
Der Gegner
beherrschte die Technik des Wing Tsun, des wohl intelligentesten
Selbstverteidigungssystems. »Falling Step«, fallenden Schlag, nannte man diesen
Angriff, bei dem das eigene Körpergewicht in die Vorwärtsbewegung eingebracht
wird. Lüder kannte diese Methode, die von einem Großmeister für Bruce Lee
entwickelt worden war, war aber zu überrascht und durch die vorhergehende
Hetzjagd für einen Sekundenbruchteil unkonzentriert. Die Wing-Tsun-Technik ist
zudem durch die taktilen Reflexe schneller als die visuelle Wahrnehmung des
Gegners.
Der kräftige
One-Inch-Punch, der Schlag aus kürzester Entfernung, traf Lüder im Solarplexus,
dem Sonnengeflecht, in dem parasympathische und sympathische Nervenfasern
gebündelt sind. Bei der Stimulation dieses Punktes an der
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