Schwere Wetter

Hauptschlagader
zwischen dem zwölften Brust- und dem ersten Lendenwirbel erweitern sich die
Gefäße im Bauchraum, der Rückstrom zum Herzen fällt ab, und es entsteht eine
Unterversorgung des Gehirns mit Blut, die von Schwindel bis zur
Bewusstlosigkeit führen kann.
    Lüder war benommen
und zugleich durch den heftigen Schlag gut zwei Meter zurückgeschleudert
worden. Er taumelte und ging zu Boden. Reflexartig stützte er sich mit den
Händen ab, bevor er neben einem dreckigen Abfallbehälter, auf dem neben vielen
Aufklebern auch einer mit dem Slogan »Bleib sauber, Rendsburg« haftete, zum
Sitzen kam.
    Ehe er reagieren
konnte, lag ein Wurfmesser in der Hand des Angreifers. Mit einer einzigen
Bewegung nahm der den Arm hoch, um das Messer auf Lüder zu schleudern. So wie
er die Wing-Tsun-Technik beherrschte, so treffsicher würde er mit dem Messer
sein, schoss es Lüder durch den Kopf, der wehrlos dem tödlichen Angriff
ausgesetzt war. Wie würde Margit reagieren?, war sein nächster Gedanke.
    Lüder sah in die
Augen des Gegners, die zu schmalen Schlitzen verengt waren, sodass er kaum den
Blick des Mannes auffangen konnte.
    Mitten im
Hochreißen des Arms hielt der Messerwerfer plötzlich inne. Er riss die Augen
auf, und der kalte Blick wich, verglichen mit der kaum wahrnehmbaren Abfolge
der vorherigen Aktionen, fast in Zeitlupe einem großen Erstaunen.
    Lüder sah das Loch
in Herzhöhe, die ausgefransten Ränder des Textils. Alles wurde begleitet durch
den Knall eines Schusses.
    Der Täter sah
ungläubig auf Lüder, dann auf den Schützen in Lüders Rücken, bevor er ganz
langsam in die Knie sackte und vornüberfiel, sodass er einen halben Meter vor
Lüders Füßen zum Liegen kam. Erst kurz bevor er das schmutzige Pflaster
berührte, entglitt das Messer seiner Hand.
    Lüder holte tief
Luft, bevor er sich in den Vierfüßlerstand begab und dem Mann ins Gesicht sah.
Man musste kein Mediziner sein, um zu erkennen, dass Wu Zang Tian auf der
Stelle tot gewesen war.
    Blattschuss,
dachte Lüder in einem Anflug von Sarkasmus. Er hatte kein Mitleid mit dem Mann,
der noch vor wenigen Herzschlägen ihn selbst hatte töten wollen, der hinter den
Morden an Dustin McCormick und Marc Wullenweber steckte und der als
Auftraggeber Popescu und seine Mörderbande angeheuert hatte.
    Wu Zang Tian hatte
als Informatiker ebenso wie Mahmud al-Rahman Einblick in beide Entwicklungsschienen
gehabt, weil er als Partner des genialen Jordaniers stets dabei war. Vor allem
aber hatte Frau Engel seinen Namen genannt. Wu Zang Tian war derjenige, der
zufällig in ihrem Büro anwesend war, als Prof. Eglschwiler seine Ankunft auf
dem Kieler ZOB angekündigt hatte.
    Der chinesische IT -Experte hatte Popescu auch den Auftrag zur
Beschattung und Eliminierung Marc Wullenwebers erteilt und sich selbst durch
seine Reise nach Stockholm ein Alibi verschafft.
    Lüder drehte
seinen Kopf zur Seite und sah den Schützen an, der ihm durch den treffsicheren
Schuss das Leben gerettet hatte.
    Jens Tödter hielt
immer noch die SIG Sauer in der Hand, die Waffe,
mit der viele deutsche Polizeibehörden ausgestattet waren.
    »Alles okay?«,
fragte Tödter, beugte sich zu Lüder herab, packte ihn unterm Arm und half ihm
aufzustehen. Lüder stand einen kurzen Moment auf unsicheren Beinen, bevor er
das Gleichgewicht zurückerlangte.
    Beide sahen auf
die Waffe in Tödters Hand, die Polizeipistole, wie sie im Volksmund genannt
wurde, obwohl der Schütze kein Polizeibeamter war.
    Lüder beugte sich
zu Wu Zang Tian herab und fühlte kurz nach dem Puls. Dabei sah er, dass jetzt
Blut aus dem Einschussloch in der Brust sickerte.
    Lüder holte sein
Handy hervor, wählte die Eins-Eins-Null und forderte Polizei und den
Rettungsdienst an.
    Tödter hatte in
Notwehr gehandelt. Lüder sah dem jungen Mann in die Augen, die nicht so kalt
dreinblickten wie zuvor die Wu Zang Tians, als der mit dem Messer auf Lüder
zielte. Tödter war mit Sicherheit kein eiskalter Killer, auch wenn er im
entscheidenden Moment die Nerven behalten und die ihm antrainierten Reflexe
genutzt hatte.
    Lüder streckte ihm
die Hand entgegen. Tödter reichte ihm die Waffe.
    »Danke«, sagte
Lüder, und Tödter verstand, dass es nicht der Aushändigung der Pistole galt.
    »Tut mir leid«,
fuhr Lüder fort. »Trotzdem. Es muss sein.«
    Tödter zuckte mit
den Schultern. Er verstand auch das. Beide Männer wussten, dass es ein
förmliches Verfahren geben würde, das aber ohne jede Folge für Jens Tödter
bleiben