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Schwere Wetter

Titel: Schwere Wetter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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zehn Jahren.
    Jeder, der noch über einen Rest gesunden Menschenverstands verfügte, hatte seine Wohnung verrammelt, seine Sachen zusammengepackt und/oder war evakuiert worden. Die vernünftigen Flüchtlinge vermochten der schieren Anzahl der Leute ohne gesunden Menschenverstand, die sich in einer endlosen Prozession von Autos mit Wohnanhängern, Mietbussen und motorisierten Zweirädern in den Bundesstaat ergossen, allerdings nichts entgegenzusetzen. Oklahoma war das Mekka der Schwerwetterfreaks geworden. Und davon gab es viel mehr, als Jane sich jemals hätte träumen lassen.
    Nach kurzem Zögern waren die Vernünftigen wieder beschämt an den Ort des Geschehens zurückgekehrt, damit die Freaks nicht alles klauten. Was die Freaks auf ihre merkwürdig zerstreute Art auch tatsächlich taten. In Anadarko, Chickashaw, Weatherford und Elk City waren die billigeren Hotels ausgebucht und die Parkplätze voller Campingzelte, und es fand eine endlose Bierparty statt, durchbrochen von gelegentlichen nächtlichen Schießereien und kleinen Ausflügen, bei denen jeder soviel zusammenraffte, wie er konnte. Man hatte die Nationalgarde damit betraut, die Ordnung aufrechtzuerhalten, doch in Oklahoma hatte die Nationalgarde auch so schon zuviel zu tun. Die Nationalgarde war neben der Landwirtschaft, der holzverarbeitenden Industrie und der Zementindustrie von Portland einer der größten Arbeitgeber des Bundesstaates. Die paramilitärische Garde verkaufte den Plünderern tagsüber T-Shirts und Snowballs, ein Getränk aus Eierlikör und Limonade, und nachts legten sie Uniformen an, zogen los und prügelten auf sie ein, was das Zeug hielt.
    Der entfesselten, enthusiastischen TV-Berichterstattung nach zu schließen, verspürten jedoch nicht alle Beteiligten ein perverses, unverhohlenes Vergnügen an der hysterischen, unerträglichen Wetterspannung. Der Himmel war kanariengelb und voller Staub, und abends flackerten furchteinflößende, trockene Hitzegewitter über den Himmel, und alles roch nach Dreck, Schweiß und Ozon, und die Menschen genossen das auch noch. Die Trockenheit dauerte einfach schon zu lange. Die Bewohner der Tornadostraße hatten bereits viel zuviel erduldet. Sie hatten die Angst längst hinter sich gelassen und auch die verbitterte Resignation. Und nun nahmen sie zu krampfhaftem, schwarzem Humor Zuflucht.
    Die Menschen, die von ganz Amerika eintrafen - natürlich einschließlich Mexiko und Kanada -, waren ein ganz anderer Schlag als die üblichen Tornadojäger. Der normale Tornadofreak war im Grunde eher ein belesener, eulenhafter Typ, der sorgsam die neuesten Wetterberichte studierte und die Okulare seines digitalen Fernglases polierte, damit er im richtigen Moment ins Freie springen und begeistert ein kurzes, flüchtiges Phänomen beobachten konnte, das gewöhnlich nur ein paar Minuten zu sehen war.
    Die gegenwärtigen Schwerwetterfreaks hingegen waren ganz anders als die Wetterleute, die Jane gewohnt war, anders, als sie erwartet hatte. Obwohl sie sich im Herzen des Kontinents befanden, viele Kilometer von jeder Küste entfernt, ähnelten sie eher den modernen Hurrikan-Beobachtern.
    Schwerwetterfreaks traten in unterschiedlichen soziologischen Varianten auf. Zunächst war da mal eine gewisse Anzahl von Leuten, die sich einfach nichts aus dem Leben machten. Verzweifelte Menschen, die aktiv ihren eigenen Untergang betrieben. Doch obwohl die potentiellen Selbstmörder ein realer Faktor und sozusagen das Herz und die Seele des Phänomens waren, stellten sie doch eine sehr kleine Minderheit dar. Die meisten dieser sorgenbeladenen, schwarzgekleideten Hamlets entwickelten einen starken Überlebenswillen, wenn der Wind erst einmal zu einem massiven, pulsierenden Brüllen anschwoll.
    Zweitens und in weit größerer Zahl waren da die sensationsgeilen Freaks, die übermäßig gebräunten Sportler und die krebsgefährdeten muskulösen Surfertypen. Es war schon erstaunlich, wie wenige von diesen leichtsinnigen Idioten selbst bei den schlimmsten Unwettern ums Leben kamen oder verletzt wurden. Meistens hatten sie Atmungsgeräte und smarte Surfbretter dabei und machten Jagd auf die Große Welle, die Richtig - Große - Welle, die Wahnsinnig - Große - Welle. Da man in Oklahoma nicht surfen konnte, hatte der bizarre Erfindungsreichtum einer völlig durchgeknallten Freizeitindustrie Dutzende gemeiner, kleiner ›Windschoner‹ mit Diamantnaben auf den Markt gebracht, segelbetriebene Fahrzeuge, die von Natur aus so unberechenbar waren,

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