Schwerelos
mich warten lässt. Ich finde, dass mir Eifersucht nicht zusteht, und ich hatte immer nur Männer, deren Priorität ihre Karriere war. Nein, ich bin nicht bescheiden, aber ich kann mit Aufmerksamkeit nicht umgehen, weil ich sie nicht gewohnt bin.
Conradi ist unverschämt fordernd und anrührend offenherzig, anhänglich und bedürftig, wie ein Welpe, der sich einen Splitter in die Pfote getreten hat. Ich bin noch niemals so schonungslos gebraucht worden. Für Michael Conradi bin ich eine Hauptperson, und ich finde das toll.
Solange man ihn nicht näher kennt, ist er ein beeindruckender Mann. Er ist Anfang fünfzig, also in den Jahren, die man bei Männern gerne als ihre besten bezeichnet. Bei Frauen nicht. Nach zehn Jahren als Wissenschaftsreporter bei der «Zeit» hat er sich als freier Autor selbständig gemacht und seither einige Journalistenpreise gewonnen. Er hat eine Frau und eine heimliche Geliebte, die sich, um ihn zu seinem fünfzigsten Geburtstag zu überraschen, ihre Schamhaare in Herzform rasiert hat. Also alles bestens, sollte man meinen. Bloß dass ich es besser weiß.
«Frau Goldhausen, wenn Sie ‹Hauptsache Liebe?› aufmerksam gelesen hätten, würden Sie sich jetzt in Ihrem Geräterauman einen zentralen Satz daraus erinnern: ‹Mach dir klar, wer du bist, und vergiss, wer du warst.›»
«Es ist aber sauschwer, gegen die Erinnerungen einer ganzen Schulklasse anzukommen. Die rechnen mit einer Trantüte, und schon benehme ich mich wie eine. Die geben mir ja gar nicht die Chance, jemand anders zu sein. Einer dieser Idioten war meine große Liebe und hat sich nicht mal an mich erinnert!»
«Aber so, wie Sie Ihren eigenen Schilderungen nach früher ausgesehen haben, ist das doch ein Riesenkompliment. Sorgen Sie dafür, dass dieser Tölpel Sie nach diesem Abend nie wieder vergessen wird. Es wird sowieso höchste Zeit, dass Sie mal Schwung in Ihr Leben bringen. Sie könnten beispielsweise mit Ihrem Erdkundelehrer durchbrennen, vom Direktor schwanger werden oder endlich Ihre große Liebe von damals erobern.»
«Mein Erdkundelehrer ist pensioniert, der Direktor tot, ich nehme die Pille, und der gute Werner hat einen tropfenförmigen Hintern bekommen. Mir fehlt kein Schwung. Ein Hauch Selbstbewusstsein, mit dem ich die nächsten drei Stunden überstehe, würde mir schon reichen. Sind Sie noch dran?»
«Natürlich.»
«Immer wenn Sie mich länger als zwanzig Sekunden reden lassen, denke ich, Ihnen sei was zugestoßen. Aber jetzt sagen Sie schon: Was ist der Grund Ihres Anrufes?»
«Mir sind da wieder ein paar Sorgen wegen des neuen Buches gekommen. Außerdem möchte meine Geliebte, dass ich mit ihr eine Paartherapie mache, und ich wüsste gerne, was Sie davon halten. Aber all das würde ich lieber in Ruhe mit Ihnen besprechen. Ich kann mich nicht gut auf mich konzentrieren,wenn ich Sie in diesem Kabuff weiß. Jetzt kommen Sie sofort da raus! Ich melde mich morgen wieder.»
Er hatte ja recht. Ich warf noch einen letzten Blick in den Geräteraum, der mir ein liebgewonnener Unterschlupf geworden war, und trat in die unangenehm hell erleuchtete Turnhalle.
In derselben Sekunde kam noch jemand in die Halle: Flittchen-Fricke.
Und sie trug mein Marc-Jacobs-Kleid!
Wir konnten unmöglich so tun, als hätten wir uns nicht bemerkt. Alle sahen, dass wir uns gesehen hatten. Und schauten spürbar gespannt, was jetzt folgen würde.
Wir gingen aufeinander zu. Flittchen-Fricke lächelte mich mit gefletschten Zähnen an und strich ihr Kleid mit einer Bewegung glatt, mit der sie sich auch die Ärmel hätte aufkrempeln können, um mir eins in die Fresse zu hauen.
Als wir voreinander standen, glaubte ich, mindestens einen halben Meter kleiner als sie zu sein. Weniger forsch als geplant sagte ich: «Guten Abend, Sabine.»
Flittchen-Fricke ignorierte meine ausgestreckte Hand, und ich tat eilig so, als hätte ich mir bloß eine Haarsträhne hinters Ohr schieben wollen. Oh, du gnädiger Erdboden, tu dich auf, mich zu verschlucken und an einem geeigneten Ort weit weg von hier, meinetwegen auch in einem verregneten Industriegebiet im Nordosten von Rumänien, wieder auszuspucken!
Flittchen-Fricke sagte so laut, dass alle es hören konnten: «Ach Goldi, sag mal, warst du etwa die letzten zwanzig Jahre im Geräteraum?»
Tsunamihaft flutete das Gelächter meiner ehemaligen Mitschüler durch die Halle. Und gerade als ich dachte, dassmich diese Monster-Gelächterwelle fortspülen, ich meine Tränen nicht mehr würde
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