Schwerelos
Mausezähnchen. Ja wer ist denn da? Ist da die Tante Marie? Dadadada, ja am Telefon, du kleines Schnuppischnuppi, wer ist denn da, ja das Tantitantitanti!› Stunden meines Lebens zerrinnen, in denen ich einen Hörer an mein Ohr halten muss, aus dem nur seltsame Schmatz- und Gurgellaute und dein schrilles Geschrei kommen. Deine Tochter kann noch nicht sprechen, warum also sollte sie telefonieren? Warum schickst du mir Listen, auf denen steht, was ich Justus und Lena schenken soll und was auf keinen Fall? Nichts mit Zucker! Nichts aus Plastik! Keine Kunstfasern und nichts Gewaltverherrlichendes. Videos und DVDs: verboten! Holzspielzeug aus dem Rudolf-Steiner-Laden, das wäre schön. Toll auch dein PS: ‹Die Kinderkleidung bei Burberry und Ralph Lauren fällt in der Regel eine Nummer kleiner aus als auf dem Etikett angegeben.› Warum wirfst du meiner Mutter unterm Tannenbaum seufzende Blicke zu, die, wenn sie sprechen könnten, sagen würden: ‹Siehst du, genau das habe ich befürchtet. Die Rosemarie hat einfach keine Ahnung von kindgerechten Geschenken. Aber woher auch?› Und warum, liebe Katrin, freut sich Justus dann tausendmal mehr über meinen singenden und tanzenden Plastik-Spiderman als über das jägergrüne Baby-Strickensemble mit Lederknöpfen von meiner Mutter? Ich hoffe, dass es wenigstens ein Sonderangebot mit kleinen Mängeln war.»
All das sagte ich natürlich nicht. Ich war sechsunddreißig und auch das nicht mehr lange. Ich lehnte mich zurück, zauberteein mildes Lächeln in mein Gesicht und kam mir total erwachsen vor.
«Weißt du, Marie, Selbstverwirklichung mag ja ihre Reize haben, aber auf Dauer wirst du damit nicht zufrieden sein. Wer den eigenen Egoismus über alles stellt, wird nie wirklich glücklich sein. Es sind die Opfer, die man für seine Familie bringt, die einen erst richtig zum Menschen machen.»
Ich faltete meine Hände unter dem Tisch, damit sie nicht doch versehentlich in einem von mir unbewachten Moment nach einem Messer griffen.
«Aus welchem Abreißkalender hast du bloß diese Weisheiten, liebe Katrin? Und von welchen Opfern sprichst du in deinem Fall?»
Ich konnte einfach nicht anders, denn Katrin berührte einen wunden Punkt bei mir. Und an meine wunden Punkte lass ich nicht gerne Leute, die ich nicht leiden kann.
«Du weißt doch genau, dass ich auf meine eigene Karriere verzichtet habe, um Justus und Lena eine schöne Kindheit zu geben.»
«Du bist im ersten Berufsjahr von deinem Chef schwanger geworden. Unter einem Karriereverzicht stelle ich mir was anderes vor. Warum fängst du nicht wieder an, eigenes Geld zu verdienen und Karriere zu machen? Es hindert dich doch keiner mehr. Lena ist zwei, Justus fast sechs. Und soweit ich weiß, hast du abgestillt.»
«Marie, ich bitte dich, Katrin hat es doch überhaupt nicht nötig zu arbeiten», mischte sich jetzt mein Bruder Dietmar in die unerfreuliche Unterhaltung ein. Ich dachte, ich höre nicht richtig.
«Nicht nötig? Aber du hast es nötig zu arbeiten? Mein Beileid, Papabär.»
«Typisch», zischte Katrin, «keine Ahnung haben, aber ironische Kommentare abgeben. Kinder brauchen ein verlässliches Zuhause und fördernde Zuwendung. Ich werde das Wertvollste meines Lebens doch nicht verwahrlosen lassen, bloß um mich egozentrischen Karrierewünschen hinzugeben. Du hast doch nicht den Hauch einer Ahnung, welches Gotteswunder es für eine Frau ist, Leben zu schenken. Und so wie ich dich kenne, kann ich nur hoffen, dass du nie Kinder bekommst!»
«Noch jemand Püree?»
Ich hörte meiner Mutter ihre Verzweiflung an und versuchte mich zu beruhigen. Klappte aber nicht. Ich holte sehr tief Luft, um dieser blöden Übermutter endlich zu sagen, dass es keine Kunst ist, Opfer zu bringen, wenn man nichts zu opfern hat. Dass es keine Kunst ist, auf eine Karriere zu verzichten, wenn man einen Beruf hat, der einem nicht am Herzen liegt. Dass es keine Heldentat ist, die Pille abzusetzen, wenn man einen gut verdienenden Mann, eine Eigentumswohnung und eine engagierte Oma hat.
«Ich will mich ja nicht in dein Leben einmischen, liebe Katrin», begann ich spöttisch – als es an der Tür klingelte.
Wir schauten uns alle irritiert an. In meinem Elternhaus hat es abends nach zehn noch nie an der Tür geklingelt. Und Heiligabend schon mal gar nicht. «Papabär, geh du», hauchte Katrin erbleichend, «und nimm das Tranchiermesser mit.»
Dietmar öffnete die Tür. Und es begann das schönste und seltsamste Weihnachten meines Lebens.
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