Schwerelos
zurückhalten können und dass hier, vor sechzig ehemaligen Mitschülern und Lehrern, mein ganzes altes Unglück herausbrechen und ich mich bis in die Ewigkeit für diesen schrecklichen Moment schämen würde, legte jemand von hinten eine Hand auf meine Schulter, und ein hohe, seltsam vertraute Stimme rief: «Goldi, mein Engel, das ist ja der Wahnsinn! Aus dir ist ja eine wunderschöne Frau geworden! Und was für ein unglaublich tolles Kleid du trägst! In drei Nummern größer wie bei Fräulein Fricke sieht es allerdings scheiße aus.»
Flittchen-Frickes Lächeln verstarb so plötzlich wie ein fieser Doppelagent, der von einem Scharfschützen mit einem Schuss erledigt wird.
Irgendjemand nahm mich so heftig in die Arme, dass mir die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Das höhnische Gelächter, das jetzt die Halle erfüllte, galt nicht mehr mir. Flittchen-Fricke drehte sich abrupt um, und ihr erschrockener, schwabbeliger Hintern folgte ihr mit einigen Sekunden Zeitverzögerung.
Und dann kamen mir wirklich die Tränen. Und wir weinten beide. Über alles, was wir durchmachen mussten, und dass wir uns nach so vielen Jahren endlich wiedergefunden hatten. Küppi Kanak und ich.
«Wer seine Miete nicht selber zahlen kann, für den ist Freiheit ein leeres Wort»
«Mariechen, du hast doch eine nette Karriere gemacht. Was hält dich jetzt noch ab, den Frank zu heiraten und eine Familie zu gründen? Er hat dich doch letzte Woche gefragt, oder?»
Das hatte mein Vater Heiligabend gesagt. Das Klassentreffen und meine großartige Wiedervereinigung mit Küppi Kanak waren erst zwei Wochen her, und ich fühlte mich immer noch so beschwingt, dass ich glaubte, ein friedliches Fest bei meinen Eltern in Wiesbaden verbringen zu können.
Ich rechnete es mir hoch an, dass ich bei der Formulierung «nette Karriere» nicht sofort zeternd aus dem Zimmer gerannt war – wie ich es in meiner Jugend schätzungsweise dreimal die Woche getan hatte. Bei uns gab es selten ein Abendbrot, bei dem keiner unserer fünfköpfigen Familie den Tisch verließ. Entweder beleidigt schweigend, eine Spezialität meines Vaters, oder lauthals meckernd, mein Fachgebiet und das meiner Brüder. Oder beinahe lautlos schluchzend, die unschlagbare Taktik meiner Mutter, die uns alle immer sofort zu Reue und Rückkehr ins Esszimmer bewog.
«Jetzt lass es mal gut sein, Klaus, es ist Heiligabend», sagte meine Mutter, um Harmonie bemüht. «Du solltest stolz daraufsein, dass deine Tochter überlegt, sich als Lektorin selbständig zu machen. Mariechen kommt eben immer mehr nach deiner Schwester Rosemarie.»
«Ja, leider», brummte mein Vater. Ich überlegte, wie ich das unselige Gespräch beenden könnte. Für einen dramatischen Müdigkeitsanfall, gefolgt von sofortigem Rückzug in mein ehemaliges Kinderzimmer, war es zu früh. Der Nachtisch stand noch aus, und meine Mutter wäre zu Recht gekränkt gewesen. Meine größte Sorge war, dass sich auch noch meine Schwägerin Katrin zu dem Thema äußern würde.
Sie hat, sehr zur Freude meiner Eltern, meinem Bruder Dietmar in pädagogisch sinnvollem Abstand von 3,2 Jahren zwei Kinder geboren, Justus und Lena. Es war also absolut zu befürchten, dass sich Katrin megamäßig berufen fühlen würde, ein paar fachkundige Sätze zum Thema «Die Selbstverwirklichung der Frau im Allgemeinen und der Gebärstreik meiner Schwägerin Rosemarie im Besonderen» abzusondern.
Ihr grundschullehrerinnenhaftes Räuspern weckte in mir bereits Mordgelüste. «Ich möchte mich wirklich nicht in dein Leben einmischen, Rosemarie», begann sie ihren Vortrag. Und nur weil Heiligabend war und meine Mama am Tisch saß, unterbrach ich sie nicht auf der Stelle mit den Worten: «Dann lass es doch auch, du superspießige Arschkrampe! Frauen wie du sind genau der Grund, warum Frauen wie ich keinen Bock aufs Kinderkriegen haben! Sogar Heiligabend trägst du Kleidung, die man bestenfalls ‹praktisch› nennen kann. Schon mal gehört, dass geschnürte Halbschuhe mit rutschfester Sohle einen plumpen Fuß machen? Warum ist es dir egal, wie du aussiehst, und warum ist es dir so wichtig, wie deine Kinder aussehen? Warum nennst du meinen Bruderseit deiner ersten Schwangerschaft nicht mehr Dietmar, sondern Papabär? Warum muss ich mir die Hände desinfizieren, bevor ich deine Kinder auf den Arm nehmen darf? Und warum holst du immer erst Lena ans Telefon, wenn ich meinen Bruder sprechen will? ‹Leni, die Tante Marie ist dran. Sag mal was, mein
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