Schwerelos
vor der Trauermesse von Weinkrämpfen geschüttelt worden. Immer wieder hatte sie schluchzend erzählt, wie nah Rosemarie und sie sich gestanden hätten und wie intensiv ihre Gespräche am letzten Abend vor der tragischen Reise gewesen wären.
«Ich habe wirklich den Hauch des Todes gespürt. Ich wollte aber nichts sagen, um niemanden zu verunsichern. Es ist wirklich kein einfaches Schicksal, diese Ahnungen zu haben. Man braucht dafür eine unglaubliche Empfindsamkeit.»
Ich musste mich sehr zurückhalten, sie nicht zu erinnern, dass sie bereits eine Stunde nach Rosemaries Auftauchen zu Bett gegangen war und sich am nächsten Morgen ausführlich über unangekündigte Besuche zu später Stunde empört hatte. Und dann hatte sie noch einen Vortrag gehalten über die Taktlosigkeit, diesen Joachim anzuschleppen, einen so viel jüngeren Mann, den sie kaum kannte. «Bloß gut, dass die Kinder schon im Bett waren.»
Als wir hinter dem Sarg hergingen, hatte ich sie zu meinem Bruder sagen hören: «Ich verstehe nicht, warum wir sie hier in Berlin und nicht in Wiesbaden beerdigen. Wer bezahlt denn jetzt die Grabpflege? In Wiesbaden hätte unser Au-pair-Mädchensich um das Grab kümmern können. Und sag mal, Papabär, was ist eigentlich mit der Million von Heinz-Peter? Sind wir da erbberechtigt? Justus wünscht sich doch so sehr ein eigenes Reitpferd.»
Als Katrin wenige Minuten später ans Grab getreten war, um ihren mickrigen Blumenstrauß hineinzuwerfen, musste sie von ihrem Mann gestützt werden.
Ich schlendere noch ein wenig über den Friedhof und bin froh, dass Tante Rosemarie hier in Berlin beerdigt worden ist. Sie hätte es grauenvoll gefunden, in Wiesbaden womöglich neben ihrem ersten Mann Hans Kramer beigesetzt zu werden. «Ich weiß noch», hatte sie mir einmal amüsiert erzählt, «wie pietätlos es die Familie von Hans fand, dass ich nach seinem frühen Tod kein Doppelgrab genommen habe. Aber was gibt es Schrecklicheres, als mit Mitte fünfzig schon zu wissen, neben wem man beerdigt sein will? Und ganz besonders, wenn dieser Jemand bereits tot ist.»
Und jetzt ruht meine Tante unweit von Johannes Rau, Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Helene Weigel und Ernst Litfaß, dem Erfinder der Litfaßsäule. Ja, das hätte ihr gut gefallen.
Ich habe das Zeitgefühl verloren. Die anderen sind bestimmt schon bei der Nachspeise.
Ich rede mir ein, dass ich unbedingt noch die Gräber von Brecht und der Weigel sehen will. Mit Brecht habe ich mich zum letzten Mal während meiner Schulzeit beschäftigt und ihn seither keine Sekunde vermisst. Aber ich will Zeit schinden, um den Leichenschmaus zu verkürzen.
Nach ein paar Minuten habe ich die beiden gefunden. Zwei graue Natursteine, auf denen nur die Namen stehen.Das einzig Ungewöhnliche an dem Doppelgrab ist die Frau, die davor kniet und kotzt.
«Kann ich Ihnen helfen?», frage ich befangen. Die Frau trägt einen schwarzen Mantel, und unter ihrem schwarzen Kopftuch schauen blonde Haare hervor. Ob ihr die plötzliche Erkenntnis über die Endgültigkeit des Todes von Herrn Brecht auf den Magen geschlagen ist? Man weiß es ja nie bei diesen Intellektuellen.
«Kann ich Ihnen helfen?», frage ich noch einmal etwas lauter.
Die Frau dreht sich um – und ich blicke in das grüne Gesicht meiner Cousine Leonie.
«Was ist mit dir?»
«Mir ist übel.»
«Das sieht man. Was ist denn los?»
«Ach nichts. Also eigentlich nichts. Es ist nur, weil … Ich bin schwanger und habe keine Ahnung, von wem!»
Leonie stürzt sich schluchzend auf mich. Und ehe ich etwas anderes denken kann, denke ich, dass auf meinem nachtblauen Wollmantel die Reste des Erbrochenen sicher sehr gut sichtbar sein werden. Und für diesen Gedanken schäme ich mich sogleich ungeheuerlich.
Leonie Goldhausen habe ich immer als eines der angenehmsten Mitglieder unserer Familie empfunden. Sie ist die jüngste Tochter meines Onkels Arnold, der mit einem Getränkegroßhandel ein stattliches Vermögen gemacht hat. Nach dem Abitur war sie ein Jahr auf Weltreise gegangen und hatte diverse Studiengänge ausprobiert. Zuletzt hieß es, dass sie in Goa eine Tauchschule eröffnen wollte. Mein Vater ließ sich daraufhin ausführlich über Kinder, die ihren Elternbis zum Sankt-Nimmerleins-Tag auf der Tasche liegen, aus. «Mein Bruder Arnold ist reich und schwach, eine sehr ungünstige Kombination. Er hat Leonie von Anfang an viel zu sehr verwöhnt. Jetzt ist sie neunundzwanzig und noch immer flatterhaft wie ein
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