Schwerelos
Und, was ich nicht wissen konnte, das letzte mit meiner Tante Rosemarie.
Sie trug eine rote Weihnachtsmannmütze mit blinkenden Sternchen und einem weißen Plüschbommel. Sie brachtedrei Flaschen Champagner mit und einen Mann, den ich noch nie gesehen hatte.
«Darf ich vorstellen, das ist Joachim.» Wir waren verblüfft, als hätten Maria und Josef persönlich unser Esszimmer betreten. «Und ehe ihr euch hinter meinem Rücken über sein Alter empört, sage ich lieber gleich, dass er dreiundsechzig ist und damit fünfzehn Jahre jünger als ich. Er wird meine letzte große Liebe sein. Da bin ich mir diesmal absolut sicher.Seid also bitte nett zu ihm. Und jetzt macht den Champagner auf. Den Wein aus der Schnäppchen-Ecke könnt ihr ja morgen Abend weitertrinken.»
«Es hat halt nicht jeder eine Million auf dem Konto wie du», sagte meine Mutter beleidigt. Die Gradlinigkeit ihrer Schwägerin lag ihr gar nicht.
«Ach, Hildchen, auch wenn du zehn Millionen hättest, würdest du immer noch am liebsten Sonderangebote kaufen. Du hast gerne Geld, ich gebe es gerne aus. Und apropos Geld ausgeben: Morgen in aller Frühe fliegen Joachim und ich nach Südafrika und werden bis Silvestermorgen in der schönsten Lodge wohnen, die man sich vorstellen kann. Ringsum Savanne und am Horizont riesige Berge. Anschließend chartern wir in Kapstadt ein Flugzeug und fliegen ein bisschen rum.»
«Rumfliegen?»
Ich hatte endlich meine Sprache wiedergefunden.
«Joachim hat den Pilotenschein für zweimotorige Propellermaschinen. Und das Geld wird uns ja dank Heinz-Peter nicht so schnell ausgehen.»
Meine Mutter war mal wieder vollkommen überfordert. Sie mag es nicht, wenn’s anders kommt. Sie liebt noch nicht einmal schöne Überraschungen. «Der Puter ist schon aufgegessen», sagte sie hilflos, «aber der Nachtisch müsste für alle reichen.»
«Keine Panik, Hildchen. Wir essen nichts, wir trinken nur. Ist besser für die Figur und die Stimmung. Wir wollten schon früher hier sein, aber auf der Fahrt gab es einen ‹Per sonenschaden ›, wie der Zugbegleiter feinfühlig sagte. Da hat sich jemand auf die Gleise geworfen und damit den ganzen Verkehr lahmgelegt. Ich habe ja nichts gegen den Freitod,aber dass man so viele andere Leute mit den eigenen Problemen behelligt, finde ich rücksichtslos. Und dann auch noch diese Schmierage, die irgendwelche armen Menschen wegmachen müssen.»
«Ich kümmere mich dann mal um die Nachspeise», sagte meine Mutter und floh in die Küche. Sie hat einen empfindlichen Magen. Katrin und mein Vater versprachen spontan ihre Hilfe, und Dietmar beschloss, mal kurz nach den Kindern zu sehen.
«Warum hast du mir von alldem nichts erzählt?»
Ich war zunehmend beleidigt, dass Rosemarie mich nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte. Dabei wusste ich genau, dass sie zu blitzschnellen Entschlüssen neigte. Ihre Trekking-Tour in Vietnam, die Hochzeit mit Heinz-Peter, der erste Joint am Vorabend ihres siebzigsten Geburtstages: All das hatte ich erst kurz vorher oder lange nachher erfahren.
Ich hatte mich mühsam daran gewöhnt, dass sie tut, was sie für richtig hält, und sagt, was sie meint. Sie verabscheut schlecht erzogene Kinder und Männer, die nicht in Würde, sondern nur in Begleitung einer zwanzigjährigen Gespielin alt werden können.
Ich erinnere mich noch sehr genau, wie Tante Rosemarie bei einem Ladies Lunch eine Runde reich verheirateter Damen gegen sich aufbrachte, als sie meinte: «Wer seine Miete nicht selber zahlen kann, für den ist Freiheit ein leeres Wort.» Wie auf Kommando zückten die Damen indigniert ihre Kroko-Börsen und verlangten die Rechnung. Es ist nicht so, dass Rosemarie unfreundlich sein will. Sie will bloß keine Zeit verlieren.
«Wenn du einen Großteil deines Lebens hinter dir hast, verschwendest du deine Zeit nicht mehr mit den falschenLeuten oder vertagst Probleme, deren Lösung dir unangenehm, aber bekannt ist.»
Ihr Eigensinn ist nicht immer leicht zu ertragen, und an diesem Heiligabend starrte ich grimmig auf Joachims Füße, als seien sie für alles verantwortlich.
«Ach, Liebchen, jetzt mach doch nicht so ein Gesicht. Komm, trink noch ein Glas Champagner.»
«La Grande Dame», stand auf dem Etikett der Flasche. Ich war auf einmal eifersüchtig, denn normalerweise tranken Rosemarie und ich diesen aberwitzig teuren Jahrgangschampagner nur, wenn wir uns im Januar zu unserer Jahresvorschau trafen.
«Wann haben Sie denn eigentlich meine Tante kennengelernt, Herr
Weitere Kostenlose Bücher