Schwertgesang
entkam. Ich wollte jeden Dänen, jeden Nordmann, ich wollte jeden Angreifer tot sehen. Alle, bis auf einen, und diesen einen würde ich nach Osten schicken, damit er in den Lagern der Wikinger die Nachricht verbreitete, dass an den Ufern der Temes Uhtred von Bebbanburg auf sie wartete. »Arme Seelen«, murmelte Ralla. Durch das Gewirr der Weidenzweige sah ich im Süden den rötlichen Schimmer brennender Strohdächer. Der Schimmer wurde zusehends leuchtender und breitete sich aus, bis er den winterlichen Himmel über einem Niederwald erhellte. Der Schimmer spiegelte sich in den Helmen meiner Männer, tauchte das Metall in einen roten Widerschein, und ich rief ihnen zu, sie sollten die Helme abnehmen, um zu vermeiden, dass die Wachen in dem großen Schiff vor uns die rotglühende Spiegelung entdeckten. Auch ich nahm meinen Helm mit dem silbernen Wolfskamm ab.
Ich bin Uhtred, Herr von Bebbanburg, und damals war ich ein Kriegsherr. Ich stand dort in Lederrüstung und Kettenhemd, mit Umhang und Waffen, jung und stark. Die Hälfte meiner Haustruppe war bei mir in Rallas Schiff, die andere Hälfte befand sich unter Finans Kommando weiter westlich zu Pferde. Jedenfalls hoffte ich, dass sie dort im nachtumhüllten Westen auf uns warteten. Mit dem Schiff hatten wir es leichter gehabt, denn wir konnten uns den dunklen Fluss hinabtreiben lassen, um auf den Feind zu treffen, während Finan seine Männer über das nachtschwarze Land hatte führen müssen. Doch ich vertraute auf Finan. Er würde dort sein, ruhelos und grimmig, und nur darauf warten, endlich sein Schwert ziehen zu können. Dies war nicht unser erster Versuch in diesem langen, feuchten Winter, dem Feind an der Temes aufzulauern, doch es war der erste, der Erfolg versprach. Zweimal schon war mir berichtet worden, dass die Nordmänner die einge-brochene Brücke von Lundene hatten überwinden können, und die schwach gesicherten, wehrlosen Dörfer von Wes-sex überfallen hatten, und beide Male waren wir den Fluss heruntergefahren und hatten sie nicht gefanden. Doch die-ses Mal hatten wir die Wölfe eingekreist. Ich berührte das Heft von Schlangenhauch, meinem Schwert, und dann berührte ich das Amulett, das um meinen Hals hing, den Hammer Thors.
Töte sie alle, betete ich zu Thor, töte sie alle bis auf einen.
Es muss sehr kalt gewesen sein in dieser langen Nacht. Eis überzog die Senken der Felder, die der Fluss überschwemmt hatte, doch ich erinnere mich nicht an die Kälte. Ich erinnere mich nur an die gespannte Erwartung. Ich berührte Schlangenhauch erneut, und es schien mir, als bebe mein Schwert. So manches Mal schien es mir, als würde die Klinge singen. Es war ein feiner, halblauter Gesang, eine Totenklage, das Lied einer nach Blut dürstenden Klinge. Es war der Schwertgesang. Wir warteten, und danach, als alles vorüber war, sagte Ralla mir, dass ich die ganze Zeit nicht aufgehört hatte zu lächeln. Ich dachte nicht, dass unser Hinterhalt sicher wäre, denn die Plünderer kehrten erst zu ihrem Schiff zurück, als das Morgenrot den östlichen Himmel erglühen ließ. Ihre Wächter, dachte ich, müssten uns entdecken, doch sie taten es nicht. Die schwankenden Zweige der Weiden hingen wie ein tarnendes Netz vor uns, vielleicht aber wurden die Feinde auch von der aufsteigenden Wintersonne geblendet, denn niemand sah uns. Doch wir sahen sie. Wir sahen die Männer in ihren Kettenhemden eine Gruppe von Frauen und Kindern über ein regendurchtränktes Feld treiben. Ich schätzte, dass es etwa fünfzig Plünderer waren und ebenso viele Gefangene. Die Frauen waren vermutlich die jungen Mädchen aus dem niedergebrannten Dorf, und sie sollten dem Vergnügen der Plünderer dienen. Die Kinder würden auf dem Sklavenmarkt von Lundene verkauft werden und von dort aus übers Meer ins Frankenreich oder noch weiter weg geschickt werden. Auch die Frauen würden, nachdem sich die Plünderer zur Genüge an ihnen befriedigt hatten, verkauft werden. Wir waren nicht nahe genug, um das Schluchzen der Gefangenen zu hören, doch ich konnte es mir gut genug vorstellen. Südwärts, wo sanfte grüne Hügel die Flussniederung umrahmten, beschmutzten langgestreckte Rauchschwaden den klaren Winterhimmel und zeigten an, wo die Angreifer das Dorf niedergebrannt hatten. Ralla bewegte sich. »Warte«, murmelte ich, und Ralla rührte sich nicht mehr. Er war grauhaarig, zehn Jahre älter als ich, und seine Augen waren nach seinen vielen langen Fahrten über spiegelnde Meere nur noch Schlitze. Er
Weitere Kostenlose Bücher