Schwester der Finsternis - 11
Richards Eintopf zu halten, der auf frisch aufgelegten Kohlen vor sich hin köchelte.
Es war ein bedeckter und kühler Tag – ein erster Vorbote des rasch nahenden Winters. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die auf Arbeitssuche waren, von Karren, die alles, von Düngemitteln bis hin zu Ballen derben dunklen Tuches, transportierten, und von Wagen, die meist Baumaterialien für den Palast beförderten. Als sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnte, musste sie darauf achten, wohin sie die Füße setzte, um dem Straßenkot auszuweichen und sich durch den Menschenstrom zu zwängen, der sich ebenso langsam fortbewegte wie der Schlamm der offenen Kanalisation.
Scharen von Bedürftigen verstopften die Straßen; viele von ihnen waren zweifellos auf Arbeitssuche nach Altur’Rang gekommen, auch wenn der Saal des Arbeiterkollektivs nur spärlich besucht war. Die Schlangen vor den Bäckereien waren lang, doch immerhin sorgte der Orden dafür, dass die Menschen Brot bekamen, auch wenn es graues, hartes Brot war. Man musste allerdings früh hingehen, bevor es ausverkauft war. Da die Zahl der Menschen ständig wuchs, ging es den Geschäften jede Woche früher aus.
Eins Tages, so gingen die Gerüchte, würde der Orden im Stande sein, mehr als eine Brotsorte bereitzustellen. Sie hoffte, wenigstens heute auch etwas Butter ergattern zu können. Manchmal wurde Butter angeboten. Brot und Butter waren billig, sie wusste also, dass sie es sich würde leisten können, ein kleines Stück für Richard einzukaufen – vorausgesetzt, es gab überhaupt welche. Das kam jedoch so gut wie nie vor.
Einhundertundachtzig Jahre hatte Nicci damit zugebracht, anderen Menschen zu helfen, und doch schien es den Menschen nicht besser zu gehen als zuvor. Wer allerdings in der Neuen Welt lebte, der war durchaus wohlhabend. Eines Tages, wenn der Orden die Welt beherrschte und man diejenigen, die über die entsprechenden Mittel verfügten, dazu zwingen konnte, ihren Mitmenschen den ihnen zustehenden Anteil abzugeben, dann würde sich endlich alles fügen, und die gesamte Menschheit würde zu guter Letzt in jener Würde leben können, die ihr gebührte. Dafür würde der Orden schon sorgen.
Das Brotgeschäft befand sich an der Kreuzung zweier Straßen, daher reichte die Warteschlange bis um die Ecke. Hinter dieser Ecke stand Nicci, eine Schulter an die Wand gelehnt, und beobachtete die vorüberziehenden Menschenströme, als ein Gesicht in der Menge ihre Aufmerksamkeit erregte.
Ihre Augen weiteten sich, und sie richtete sich auf, traute kaum ihren Augen. Was tat sie in Altur’Rang?
Eigentlich verspürte Nicci gar nicht den Wunsch, es herauszufinden – nicht jetzt, da alles darauf hindeutete, dass sie kurz davor stand, ihre Antworten zu bekommen. Was Richard betraf, schienen sich die Dinge in ihrer entscheidenden Phase zu befinden. Sie war sicher, dass sich bald alles klären würde.
Nicci warf den dunklen Schal über ihren blonden Haarschopf und verknotete ihn fest unterm Kinn. Sich hinter den breiten Rücken einer Frau schiebend, drückte sie sich an die Mauer und spähte zwischen den Schlange stehenden Menschen hindurch.
Nicci beobachtete Schwester Alessandra, die, ihre Nase emporgereckt, ihren berechnenden Blick über die Gesichter der Menschen in der Straße gleiten ließ. Sie sah aus wie ein Berglöwe auf Beutefang.
Nicci wusste, auf wen Alessandra es abgesehen hatte.
Unter normalen Umständen wäre Nicci überaus erfreut gewesen, dass sich ihr Weg mit dem dieser Frau kreuzte, nicht jedoch jetzt.
Nicci ließ sich gegen die groben Schindeln sinken und duckte sich hinter die vor ihr Stehenden, bis Schwester Alessandra in dem endlosen Meer aus Menschen untergetaucht war, die sich durch die Straßen schoben.
61. Kapitel
Als Kahlan zum letzten Mal aus ihrer Heimatstadt Aydindril herausritt, zog sie ihren Wolfspelzüberwurf als Schutz gegen den bitterkalten Wind bis über ihre Schultern. Sie musste daran denken, dass sie das letzte Mal, als der Winter mit einem Wetterumschwung hereinzubrechen drohte, auch Richard zum letzten Mal gesehen hatte. Ihre Gedanken schienen – seit die Welt unablässig in Aufruhr und die kriegerische Auseinandersetzung in ihre heiße Phase eingetreten war – zwangsläufig stets um drängende Probleme zu kreisen. Die unerwartete Erinnerung an Richard war eine willkommene, wenn auch bittersüße Unterbrechung ihrer Sorge um den Krieg.
Bevor sie die Hügelkuppe überquerte, sah sie sich ein allerletztes Mal um
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