Schwester der Finsternis - 11
gealtert war, dass sie wie fünfzehn oder sechzehn wirkte, befahl ihr, ein hübsches Kleid in leuchtenden Farben anzuziehen, denn schließlich handele es sich nicht um einen wirklich traurigen Anlass.
Lange stand Nicci vor dem Leichnam und betrachtete ihn. Die Gelegenheit, noch einmal seine blauen Augen zu sehen, war für immer dahin. Zum ersten Mal seit Jahren ließ der Schmerz sie tief in ihrem Innern etwas fühlen. Es tat gut, endlich wieder etwas zu fühlen, selbst wenn es ein Schmerz war.
Während Nicci das eingefallene Gesicht ihres Vaters betrachtete, erklärte Schwester Alessandra, es tue ihr Leid, dass sie sie fortbringen müsse, aber in ihrem ganzen Leben sei sie keiner Frau begegnet, bei der die Gabe so stark ausgeprägt gewesen sei wie bei Nicci, und ein solches Geschenk des Schöpfers dürfte man nicht ungenutzt lassen.
Nicci sagte, sie verstehe. Da sie ein Talent besitze, sei es nur rechtens, dass sie es benutzte, um den Bedürftigen zu helfen.
Im Palast der Propheten galt Nicci als uneigennützigste, fürsorglichste Novizin im gesamten Haus. Alle zeigten sie mit dem Finger auf sie und befahlen den jüngeren Novizinnen, sich an Nicci ein Beispiel zu nehmen. Selbst die Prälatin hatte sie bereits lobend erwähnt.
Das Lob war in ihren Ohren nichts weiter als Gerede, es kam einer Ungerechtigkeit gleich, besser zu sein als andere. So sehr sie sich auch bemühte, Nicci konnte dem Vermächtnis ihres Vaters, besser sein zu wollen als andere, nicht entkommen. Sein verderblicher Einfluss floss durch ihre Adern, drang aus jeder Pore und verpestete alles, was sie tat. Je selbstloser sie wurde, desto mehr bestätigte dies ihre Überlegenheit und damit ihre Schlechtigkeit.
Sie war sich darüber im Klaren, dass dies nur eins bedeuten konnte: Sie war böse.
»Versuche, ihn nicht so in Erinnerung zu behalten«, sagte Schwester Alessandra nach einer langen Schweigepause, als sie vor dem Leichnam standen. »Versuche dich zu erinnern, wie er war, als er noch lebte.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Nicci. »Als er noch lebte, habe ich ihn nicht gekannt.«
Ihre Mutter übernahm das Geschäft gemeinsam mit ihren Freunden aus der Bruderschaft. Sie schrieb Nicci freudige Briefe, in denen sie berichtete, sie habe zahlreichen Bedürftigen in der Waffenschmiede Arbeit gegeben; bei all dem Reichtum, der sich dort angehäuft habe, könne sich der Betrieb das leisten. Ihre Mutter war stolz, dass dieser Reichtum jetzt einem wohltätigen Zweck zugeführt werden konnte. Sie schrieb, insgeheim sei der Tod des Vaters ein Segen, denn er bedeute endlich Hilfe für die, die sie am meisten verdienten. Alles sei Teil des Planes des Schöpfers, schrieb sie.
Um all den Menschen, denen sie Arbeit gegeben hatte, ihre Löhne auszahlen zu können, war ihre Mutter gezwungen, die Preise zu erhöhen. Viele der älteren Arbeiter kündigten. Niccis Mutter behauptete, sie sei froh, dass sie fort waren, denn sie hätten eine unkooperative Einstellung.
Die Aufträge gingen zurück. Immer mehr Zulieferer bestanden darauf, vor Auslieferung der Waren bezahlt zu werden. Niccis Mutter setzte die Prüfung der Waren aus, weil die neuen Arbeiter sich beklagten, es sei ungerecht, einen solchen Standard aufrechtzuerhalten. Sie sagten, sie täten ihr Bestes, und das allein zähle. Niccis Mutter zeigte Verständnis. Die Schlagmühle musste verkauft werden. Einige der Kunden zogen ihre Bestellungen für Waffen und Rüstungen zurück. Niccis Mutter behauptete, ohne diese intoleranten Menschen ginge es ihnen finanziell besser. Sie ersuchte den Herzog um neue Gesetze und verlangte, die Arbeit müsse gleichmäßig verteilt werden, aber diese Gesetze ließen auf sich warten. Die wenigen verbliebenen Kunden hatten eine Zeit lang ihre Rechnungen nicht beglichen, versprachen aber, dies nachzuholen. In der Zwischenzeit wurden ihre Waren ausgeliefert, wenn auch mit Verspätung.
Innerhalb von sechs Monaten nach dem Tod von Niccis Vater ging der Betrieb bankrott; das ungeheure Vermögen, das er ein Leben lang angehäuft hatte, war zerronnen.
Einige der ausgebildeten Arbeiter, die einst von Niccis Vater eingestellt worden waren, zogen weiter, in der Hoffnung, an entlegenen Orten Arbeit in einer Waffenschmiede zu finden. Die meisten Männer, die blieben, fanden nur niedere Arbeit; und selbst dann konnten sie noch von Glück reden. Viele der neuen Arbeiter verlangten, Niccis Mutter müsse etwas unternehmen, woraufhin sie und die Bruderschaft bei anderen Betrieben
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