Schwester der Finsternis - 11
Besonderem macht. Sie sind die wahre Inspiration.«
Niccis Mutter lächelte zufrieden. Schwester Alessandra beugte sich vor, und ihre Stimme wurde ernst. »Hast du gelernt, von deiner Gabe Gebrauch zu machen, Kind?«
»Mutter bringt mir Kleinigkeiten bei, zum Beispiel geringfügige Sorgen zu kurieren, aber ich weiß, es wäre ungerecht, damit vor denen anzugeben, die weniger gesegnet sind als ich, daher gebe ich mir Mühe, es mir nicht anmerken zu lassen.«
Die Schwester faltete die Hände in ihrem Schoß. »Während du fort warst, habe ich mit deiner Mutter gesprochen, sie hat gute Arbeit geleistet und dir auf den rechten Weg verholfen. Dennoch können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass du sehr viel mehr zu bieten hättest, wenn du einer höheren Berufung dienen würdest.«
Nicci seufzte. »Also gut, vielleicht kann ich noch ein bisschen früher aufstehen. Aber ich habe schon meine Pflichten gegenüber den Bedürftigen und werde diese zusätzlichen so gut es eben geht dazwischenschieben müssen. Ich hoffe, das versteht Ihr, Schwester. Ich möchte kein unverdientes Mitgefühl, ganz ehrlich nicht, nur hoffe ich, Ihr müsst das mit dieser Berufung nicht zu bald erledigt haben, ich bin nämlich schon ziemlich beschäftigt.«
Schwester Alessandra setzte ein langmütiges Lächeln auf. »Du verstehst nicht, Nicci. Wir möchten, dass du deine guten Taten bei uns im Palast der Propheten weiterführst. Anfangs wärst du natürlich eine Novizin, eines Tages aber wirst du eine Schwester des Lichts werden und als solche das fortsetzen, was du begonnen hast.«
Panik überkam Nicci wie eine steigende Flutwelle. Es gab so viele Menschen, deren Leben nur an einem seidenen Faden hing, den sie in Händen hielt und sorgsam beobachtete. Sie hatte Freunde in der Bruderschaft, die sie liebgewonnen hatte. Sie hatte so viel zu tun und wollte ihre Mutter nicht verlassen, nicht einmal ihren Vater. Er war böse, das wusste sie, aber nicht zu ihr. Er war eigensüchtig und habgierig, auch das wusste sie, trotzdem deckte er sie noch immer manchmal abends zu und tätschelte ihr die Schulter. Bestimmt würde sie in seinen blauen Augen wieder etwas entdecken, wenn sie sich nur ein wenig Zeit ließe. Sie wollte ihn nicht verlassen. Aus irgendeinem Grund musste sie dieses Funkeln in seinen Augen unbedingt noch einmal sehen. Sie war sich bewusst, dass sie sich eigensüchtig benahm.
»Ich habe Bedürftige hier, Schwester Alessandra.« Nicci erschrak über ihre Tränen. »Ich bin für sie verantwortlich. Tut mir Leid, aber ich kann sie nicht im Stich lassen.«
In diesem Augenblick kam ihr Vater zur Tür herein. Linkisch blieb er stehen, die Beine mitten im Schritt erstarrt, die Hand auf dem Türgriff, und schaute die Schwester an.
»Was geht hier vor?«
Niccis Mutter erhob sich. »Howard, das ist Alessandra, sie ist eine Schwester des Lichts. Sie ist gekommen, um…«
»Nein! Das lasse ich nicht zu, hörst du! Nicci ist unsere Tochter, die Schwestern können sie nicht bekommen.«
Schwester Alessandra erhob sich und warf Niccis Mutter einen heimlichen Seitenblick zu. »Bittet Euren Mann zu gehen. Diese Angelegenheit betrifft ihn nicht.«
»Betrifft mich nicht? Sie ist meine Tochter! Ihr werdet sie nicht mitnehmen!«
Er machte einen Satz nach vorn, um Niccis ausgestreckte Hand zu packen. Die Schwester hob einen Finger, woraufhin er, zu Niccis Überraschung, inmitten eines funkensprühenden Lichtblitzes zurückgeschleudert wurde. Ihr Vater krachte mit dem Rücken gegen die Wand, rutschte nach unten, fasste sich an die Brust und rang nach Atem. Nicci brach in Tränen aus und wollte zu ihm laufen, doch Schwester Alessandra packte ihren Arm und hielt sie zurück.
»Howard«, presste Niccis Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »die Erziehung des Kindes ist allein meine Angelegenheit. Ich bin es, die die Gabe des Schöpfers in sich trägt. Als unsere Vermählung ausgehandelt wurde, hast du mir dein Wort gegeben, dass es, falls wir ein Mädchen bekommen und es die Gabe hat, ganz allein mir überlassen sein würde, sie nach meinem Gutdünken zu erziehen. Ich bin überzeugt, dies ist genau das Richtige für sie – und entspricht dem Wunsch des Schöpfers. Bei den Schwestern wird sie Gelegenheit haben, das Lesen zu lernen. Sie wird Gelegenheit haben, zu lernen, ihre Gabe zum Wohl der Menschen einzusetzen, wie dies nur Schwestern können. Du wirst dein Wort halten, dafür werde ich schon sorgen. Im Übrigen bin ich sicher, dass
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