Schwester der Finsternis - 11
trug einen langen Zopf aus feinem, braunem Haar, den sie zu einem Knoten geschlungen und am Hinterkopf festgesteckt hatte wie einen Laib Zopfbrot. Ihre Nase war ein wenig zu groß für ihr Gesicht, und sie war unscheinbar, wenn auch alles andere als hässlich. Ihre Augen konzentrierten sich mit einer beunruhigenden Intensität auf Nicci und wanderten nicht unentwegt ruhelos umher wie die ihrer Mutter.
»War es eine lange Reise, Schwester Alessandra?«, erkundigte sich Nicci, nachdem sie einen Knicks gemacht hatte. »Den ganzen weiten Weg von Tanimura, meine ich?«
»Nur drei Tage, mehr nicht«, erwiderte Schwester Alessandra. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter, als sie Niccis knochigen Körperbau gewahrte. »Sieh an, noch so klein, und schon diese Erwachsenenarbeit.« Sie deutete mit ausgestreckter Hand auf einen Stuhl. »Möchtest du dich nicht zu uns setzen, Kleines?«
»Seid Ihr eine Schwester der Bruderschaft?«, fragte Nicci, die nicht recht begriff, wer diese Frau war.
»Der was?«
»Nicci«, erklärte ihre Mutter, »Schwester Alessandra ist eine Schwester des Lichts.«
Nicci ließ sich erstaunt auf einen Stuhl fallen.
Schwestern des Lichts besaßen die Gabe, genau wie sie selbst und ihre Mutter. Viel wusste Nicci nicht über die Schwestern, außer dass sie dem Schöpfer dienten. Das beruhigte ihren Magen dennoch nicht. Eine solche Frau leibhaftig bei sich zu Hause zu haben, hatte etwas Einschüchterndes – wie wenn sie vor Bruder Narev stand. Ein unerklärliches Gefühl von Schicksalhaftigkeit beschlich sie.
Nicci war auch deshalb ungeduldig, weil Verpflichtungen ihrer harrten. Es gab Spenden, die gesammelt werden mussten. Zu manchen dieser Orte begleiteten sie ein paar ältere Förderer. Andernorts, so behaupteten sie, könne ein junges Mädchen allein, indem es die Menschen beschämte, die mehr besaßen, als ihnen zustand, bessere Ergebnisse erzielen. Diese Menschen, Inhaber von Geschäften, wussten alle, wer sie war, gewöhnlich erkundigten sie sich stammelnd nach dem Wohlbefinden ihres Vaters. Wie man ihr aufgetragen hatte, erzählte Nicci ihnen, wie erfreut ihr Vater sei zu hören, dass sie den Bedürftigen ihre Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Am Ende waren die meisten überaus zuvorkommend.
Dann waren da die Heilmittel, die Nicci Müttern mit kranken Kindern bringen musste, auch gab es nicht genügend Kleidung für die Kinder. Manche Menschen hatten kein Dach über dem Kopf, andere hausten eng zusammengepfercht in winzigen Löchern. Sie versuchte, einige Reiche zu bewegen, ein Gebäude zu spenden. Darüber hinaus war Nicci damit beauftragt worden, Krüge für die Frauen aufzutreiben, damit sie am Brunnen Wasser holen konnten. Sie musste dem Töpfer einen Besuch abstatten. Einige der älteren Kinder waren beim Stehlen erwischt worden, andere hatten sich geprügelt, und ein paar von ihnen schlugen kleinere Kinder blutig. Nicci hatte sich für sie eingesetzt und erklärt, sie hätten keine faire Chance und ihr Verhalten sei nur eine Reaktion auf ihre brutalen Lebensumstände. Sie hoffte ihren Vater überzeugen zu können, wenigstens ein paar von ihnen einzustellen, damit sie Arbeit hätten.
Die Probleme nahmen einfach immer mehr zu, ohne dass ein Ende in Sicht war. Je mehr Menschen die Bruderschaft half, so schien es, desto mehr Menschen gab es, die ihre Hilfe benötigten. Nicci hatte geglaubt, die Probleme dieser Welt zu lösen; mittlerweile kam sie sich hoffnungslos unzulänglich vor. Die Schuld für dieses Scheitern lag bei ihr, davon war sie überzeugt. Sie musste härter arbeiten.
»Kannst du lesen und schreiben, Kleines?«, erkundigte sich die Schwester.
»Nicht sehr gut, Schwester, meist nur Namen. Ich muss zu viel für diejenigen arbeiten, die weniger glücklich sind als ich. Ihre Bedürfnisse stehen über meinen eigenen selbstsüchtigen Wünschen.«
Nickend lächelte ihre Mutter bei sich.
»Praktisch eine Fleisch gewordene Gute Seele.« Die Schwester bekam feuchte Augen. »Ich habe von deinen guten Taten gehört.«
»Ja, wirklich?« Nicci verspürte ein Aufblitzen von Stolz, doch dann musste sie daran denken, dass trotz all ihrer Mühen nichts jemals wirklich besser zu werden schien, und das Gefühl, versagt zu haben, kehrte zurück. Außerdem hatte ihre Mutter gesagt, Stolz sei etwas Schlechtes. »Ich verstehe nicht, wieso an dem, was ich tue, etwas Besonderes sein soll. Die Menschen auf den Straßen sind es, die ihr Leiden unter den entsetzlichen Bedingungen zu etwas
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