Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
Vom Netzwerk:
Mutter, eine dürre dunkelhaarige Frau in senffarbener Bluse aus dem Schlussverkauf, schnappte nach Luft und zog ihren Sohn an sich. »Bertie«, tadelte sie mit hochroten Wangen. »So was darfst du den Herrn Pfarrer doch nicht fragen.«
    »Pater«, meinte Cato lächelnd.
    Die Frau sah ihn verwirrt an.
    »Pater«, wiederholte er. »Ich bin Pater, kein Pfarrer.«
    »Entschuldigen Sie«, stotterte sie. »Das ist…«
    »… schon in Ordnung«, beruhigte er sie, während er nach der kleinen Reisetasche zwischen seinen Beinen griff. »Und schimpfen Sie nicht mit Ihrem Sohn.« Er zwinkerte dem Jungen zu. »Wie soll Bertie die Rätsel dieser Welt lösen, wenn er nicht fragt?«
    Die Frau beäugte ihn verlegen. Ihre Verunsicherung wuchs, als sie mitbekam, wie er zwei Kaugummis aus der Tasche nahm. Einen reichte er dem Jungen. »Magst du?«
    Bertie schnappte danach, doch seine Mutter hielt ihn zurück. »Eigentlich darf er nach dem Zähneputzen keine Süßigkeiten mehr essen.«
    »Aber Mama«, protestierte der Junge, »das Zähneputzen war doch heute Morgen nach dem Frühstück.«
    Ein Luftwirbel ließ das Flugzeug sacken. Die Frau schrie auf, ihre Haut nahm die Farbe ihrer bleichen Bluse an. Der Junge quietschte vor Vergnügen. Cato drückte ihm das Kaugummi in die Hand. »Aber pst!«, machte er verschwörerisch. »Nicht der Mama verraten.«
    Bertie kicherte leise. Seine Mutter gewann langsam wieder an Farbe. Cato schälte das Kaugummi aus dem Papier und schob es sich zwischen die Lippen.
    Das Signal zum Anlegen der Sicherheitsgurte blinkte auf. Cato zog den Gürtel um seine Hüfte, ließ ihn einrasten und warf einen Blick aus dem Fenster. Dichte Wolkenfelder lagen über der italienischen Hauptstadt und ließen erahnen, dass die Temperaturen draußen dem Vergleich mit jenen in der brasilianischen Einöde nicht standhalten würden. Die Ereignisse in Trujillo kamen ihm in den Sinn. Er verscheuchte den Gedanken daran. Das Problem war erledigt, in Rom warteten neue Aufgaben auf ihn.
    Er beugte sich zu dem Jungen herab. Dieser blickte ihn mit großen Augen an. »Um deine Frage zu beantworten: Dort, wo ich herkomme, war es ziemlich warm, deshalb habe ich nicht gefroren. Leider hatte ich bei meiner Abreise keine Zeit, mich umzukleiden. Wenn ich daher an das Wetter denke, dass uns da unten erwartet«, er wies aus dem kleinen Fenster und tauschte ein Zittern vor, »dann wird mir wirklich angst und bange unter meinem Kleid.«
    Berties Mutter wurde knallrot. Sie legte ihrem Sohn den Sicherheitsgurt an und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Stewardessen, die mit einem Rollcontainer den Gang entlangfuhren und die Pappbecher und Speisereste einsammelten.
    Cato beobachtete die junge Mutter aus dem Augenwinkel. Ihr Verhalten war ihm nicht unbekannt. Diese Sorte Frau begegnete ihm auf den Straßen Roms allenthalben: vom falschen Mann geschwängert und schließlich verlassen, allein erziehend, arbeitslos und verzweifelt. So verzweifelt, dass nur noch die Pilgerreise nach Rom einen Ausweg aus ihrer Situation versprach. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass das Flugzeug auf der Landebahn des Fiumicino International Airports in Rom aufsetzte.
    Rom lag gefangen unter dichtem Nebel. Schon morgen würden die Zeitungen wieder voll sein mit Schlagzeilen über Verkehrsunfälle mit Dutzenden Toten. Seine Sorge war begründet gewesen. Als er das Flugzeug verließ und den Bus bestieg, der ihn und die anderen Passagiere zum Terminal bringen würde, kroch die bissige Kälte unter seine Soutane und heftete sich an seinen Leib, der von der einförmigen Sitzhaltung im Flugzeug noch ganz steif war.
    Nicht zum ersten Mal dachte er daran, dass er langsam zu alt für solche Eskapaden wurde. Aber an Ruhestand war dennoch nicht zu denken; er war der beste Mann der Kongregation, und man würde ihn erst dann gehen lassen, wenn er buchstäblich nicht mehr würde laufen können. Und für das Offizium, den erlauchten Kreis der Freunde, wurde man sowieso niemals zu alt, selbst wenn man im Rollstuhl saß.
    Als er die Abfertigungshalle verließ, erwartete ihn der Sekretär des Bischofs. Wortlos nahm dieser ihm die Taschen ab und führte ihn zum Ausgang, wo eine schwere schwarze Limousine mit dem Kennzeichen des Vatikans stand. Die Fondscheiben waren dunkel getönt und verwehrten den Blick ins Innere.
    »Hallo«, rief eine bekannte Stimme, und Cato erblickte den kleinen Bertie, der seine Mutter kaugummikauend hinter sich herschleifte. Die Frau mühte sich mit einem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher