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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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er…
    Philip zwang sich, seine Konzentration wieder auf den Besucher zu richten. »Was, wie bitte?«
    »Ich sagte, ich kenne Ihre Großmutter schon sehr lange. Sie waren wohl gerade woanders?«
    »Ich dachte an… meine Großmutter.«
    »Sie hat nie von Ihnen erzählt. Ich nahm an, sie wäre eine einsame alte Frau. Wieso hatten Sie nie Kontakt zu ihr?«
    Philip schnaufte: »Bis heute Morgen dachte ich, sie wäre tot.«
    Nicht mehr lange, dann ist sie tatsächlich tot. Gerade war sie in sein Leben getreten. Jetzt wurde sie ihm schon wieder entrissen. Und er hatte nicht einmal mit ihr reden können. Nein, das war wirklich nicht fair.
    »Heute Morgen?« Verwundert schüttelte Kahlscheuer den Kopf. Graue Strähnen fielen ihm in die Stirn. »Das tut mir Leid.« Er schien über etwas nachzudenken. Er räusperte sich. Er beugte sich vor. »Ihre Großmutter hat mir erzählt, was heute Morgen geschehen ist.«
    »Was hat sie erzählt?«
    Der Priester strich sich das weiße Haar aus dem Gesicht und musterte Philip aufmerksam. »Nicht sehr viel. Nur dass man Sie, ihren Enkel, verhaftet hat. Mit diesem Wissen war es nicht schwer herauszufinden, auf welches Revier man Sie gebracht hat.«
    »Mehr nicht?«
    Kahlscheuer hustete. Es klang, als würde das Keuchen aus den Tiefen seiner Lunge kommen. »Bevor Ihre Großmutter einschlief, hat sie mich gebeten, Ihnen eine Nachricht zu überbringen.« Er beugte sich vor. »Ich soll Ihnen sagen, Sie müssten mit Ritz reden.«
    »Mit wem?«
    »Ritz.«
    Philip war, als habe er den Namen schon einmal gehört, wusste ihn aber nicht einzuordnen. »Wer ist das?«
    Der Geistliche hob bedauernd die Hände. »Sie hat nur diesen Namen gesagt, und dass es sehr wichtig ist. Sie wollte mir noch mehr mitteilen, aber sie war zu schwach. Und dann…«, er hustete wieder, »… schlief sie ein.«
    »Sie verlor das Bewusstsein?«
    »Ja, natürlich, entschuldigen Sie.«
    Es wollte Philip nicht einfallen, in welchem Zusammenhang er den Namen schon einmal gehört hatte. Wer war Ritz? Es war zum Verzweifeln. Fragen über Fragen. Nicht eine Antwort. Und jetzt lag seine Großmutter im Sterben. Erschöpft sank er auf den Stuhl zurück. In seinem dünnen T-Shirt begann er zu frieren. Er hätte den ranzigen Pullover anbehalten sollen.
    Kahlscheuer faltete die Hände; die Situation erinnerte an die Vernehmung durch Berger. Bereit zur Beichte. »Herr Hader, ich habe das Gefühl, dass Sie etwas bedrückt. Wenn Sie reden wollen, dann…«
    »Danke. Aber nein danke«, erwiderte Philip. So verzweifelt war er nun auch wieder nicht, dass er ausgerechnet mit einem Pfaffen über die Ereignisse der letzten Tage reden wollte. Was sollte es bringen, das Weltbild des alten Mannes ins Wanken zu bringen? Ist es dir etwa anders ergangen f, fragte eine spöttische Stimme. Aber das war kein Vergleich. Schließlich glaubte Philip nicht an Gott, nicht an Jesus, nicht an das Paradies. Er hatte allerdings daran geglaubt, dass die Welt einer Ordnung folgte, einem System, das mit den Ansichten der Kirche nicht in Einklang zu bringen war. Irdisch. Rational. Wissenschaftlich. Ja, daran hatte er geglaubt. Hatte.
    »Ich meine nur, wenn Sie etwas belastet. Reden Sie. Reden hilft.« Kahlscheuer warf einen Blick zu dem Polizisten an der Tür, dessen Pupillen einen Punkt an der Zimmerdecke fixierten. »Sie können mich jederzeit erreichen, im Pfarramt der Kirchengemeinde St. Clara«, flüsterte er. »Dieses Recht steht Ihnen zu.«
    Philip erhob sich mit einem Ruck. An seinen Gelenken klimperte das Eisen. Der Priester zuckte zusammen. Der Rotschopf an der Tür versteifte sich wie auf ein unhörbares Kommando hin.
    »Danke für Ihren Besuch«, sagte Philip, nicht höflich, aber auch nicht abweisend. Die Anstrengung der letzten Tage übermannte ihn. Er war erschöpft. Ausgelaugt. Auch resigniert. Er wollte nur noch zurück in seine Zelle, sich hinlegen und schlafen. In einem Buch, dass er vor einiger Zeit gelesen hatte, hatte es geheißen: »Und solltest du sterben, bevor du erwachst…« Er vollendete den Satz mit eigenen Worten:… dann ist’s auch egal.
     
     
    Lindisfarne
     
    »Was empfindest du?«, erkundigte sich Angela.
    Die Frage schwebte für Sekunden zwischen ihnen im Raum. Was bezweckte ihre Tante damit? Wir müssen miteinander reden, hatte sie vorhin gesagt. Sie wollte auf irgendetwas hinaus. Etwas Bestimmtes.
    »Ich weiß nicht.« Beatrice hob die Schultern. »Stück für Stück, wie ein Mosaik, setzt du die Vergangenheit für mich
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