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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten
Autoren: Marcel Feige
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zusammen. Die Insel, die Burg, der Strand, Buck, Kirschkuchen, mein Zimmer, die Bilder, meine Puppen. Pfefferminztee. Alles ergibt ein schlüssiges Bild, alles passt zueinander, auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann. Noch immer nicht. Es ist, als betrachte ich ein fremdes Leben. Ich frage mich: Was ist geschehen, bevor dieser Albtraum seinen Anfang nahm? Es kommt mir wie ein Albtraum vor. Und als habe ich in meinem ganzen Leben nichts anderes als diesen Albtraum erlebt.«
    Ihre Tante nickte, als wüsste sie ganz genau, wovon Beatrice sprach. Das verwirrte sie noch mehr. »Erzähl mir davon«, sagte Angela.
    »Wovon?«
    »Von deinem Albtraum.«
    Eigentlich hatte Beatrice nicht darüber reden wollen. Viel lieber wollte sie in der gemütlichen Atmosphäre dieses Abends versinken, in der Hoffnung, dass früher oder später die Erinnerung an die Tür klopfte, herein trat und sagte: Hier bin ich, Beatrice, willkommen zu Hause.
    Buck spürte ihre Befangenheit. Er streckte sich, stand auf und legte seine Schnauze auf ihren Oberschenkel. Gedankenverloren streichelte sie ihn. Wenn sie doch nur die Erinnerung an die jüngsten Ereignisse gegen die ihrer Kindheit und Jugend eintauschen könnte – das wäre ein gutes Geschäft. Sie hätte sofort den Vertrag dazu unterschrieben. Doch wer setzte die Vereinbarung auf?
    Sie holte Luft. Dann erzählte sie von ihrem Erwachen in der Gosse von London. Von der versuchten Vergewaltigung.
    Von Elmi, ihrem Retter und treuen Gefährten mit dem Einkaufswagen. Von dem Zufall mit der Zeitung. Von Paul und dem seltsamen Gefühl, etwas sei falsch an seiner Liebe, seinen Plänen, dem Hotel, der Hochzeit, einfach allem…
    »Paul«, unterbrach Angela.
    »Paul«, wiederholte Beatrice und wartete darauf, ob ihre Tante einhaken wollte. Doch sie schwieg, und so erzählte Beatrice weiter, von ihrem Wunsch, die Vergangenheit aufzuarbeiten, und von Pauls Reaktion, die sie nur noch mehr in ihrem Entschluss bekräftigt hatte. Sie berichtete von ihrer Reise mit dem Bus, den imposanten Burgen jenseits der Straße, von der alten Dame, die ihr nach dem Beinahezusammenstoß mit der Schafherde unbedingt ein Gespräch hatte aufzwingen wollen, von ihrer Ankunft in Lindisfarne, schließlich von ihren Eindrücken in den letzten Stunden, dem Wohlgefühl, das sich zunehmend einstellte.
    »Und das war alles?«, fragte Angela.
    »Ist das nicht genug?« Beatrice glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Ich glaube doch wohl, dass…« Etwas im Blick ihrer Tante ließ sie den Rest des Satzes vergessen. Doch bevor sie erkennen konnte, was es genau war, sanken die Flammen im Kamin zusammen, und Angela rückte in den Schatten.
    »Doch«, drang ihre Stimme durch das plötzliche Halbdunkel. »Was ich wissen wollte, war…« Sie hielt inne, schien nach den richtigen Worten zu suchen.
    »Ob mir etwas Ungewöhnliches widerfahren ist?« Beatrice wusste nicht, warum sie dies sagte, aber ihre Lippen spuckten die Worte förmlich aus. Sie hoffte, ihre Tante würde auflachen und verneinen. Ach mein Kind, so ein Quatsch.
    Dennoch war sie nicht überrascht, als sie Angelas Antwort hörte: »Ja!«
    Beatrice fröstelte. Die Temperatur sackte herab. Und das lag gewiss nicht nur am Feuer im Kamin, das fast ausgegangen war.
    »Das Feuer«, meinte sie, um Zeit zu gewinnen.
    »Das fängt sich wieder.«
    Kaum dass Angela die Worte ausgesprochen hatte, knisterte das Holz, und die Flammen gewannen an Kraft. Beatrice erkannte ihre Tante wieder klar und deutlich. Doch so nahe sie ihr die letzten Stunden gewesen war, jetzt war sie weit weg.
    Manchmal ist das Leben so. Angela hatte die Andeutung vorhin nicht einfach in den Raum geworfen. Es war keine dieser Bauernweisheiten, die man aus einer Laune heraus zum Besten gab, weil einem nichts Gescheiteres einfiel. Nichts geschieht ohne Grund.
    Angela beugte ihren Oberkörper vor, als habe sie Angst, man könnte sie belauschen. Doch da waren nur der Regen, der gegen die Fensterscheiben schlug, und der Wind, der durch die Ritzen im Mauerwerk pfiff. »Erzähl mir davon«, bat sie.
    Eine Gänsehaut legte sich über Beatrice. Worauf läuft das hinaus? Buck rückte näher an sie heran. Die Geisterstunde am Kamin? Es war ein sicheres Gefühl, den Bobtail bei sich zu wissen.
    Sie warf alle Scheu über Bord. Sie berichtete von der wundersamen Begegnung mit der Prozession der Kinder in London und der alten Frau, die ihrer Tante so verblüffend ähnlich sah. Sie ließ auch das Erlebnis in Bexhall nicht aus: die
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