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Schwester der Toten

Schwester der Toten

Titel: Schwester der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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Klingelschild, unaussprechliche Namen aus Nahost. Er folgte der Treppe in die zweite Etage. Die dritte. Die vierte. Die fünfte. Er begegnete niemandem. Das Hämmern der Handwerker setzte aus. Stille. Selbst das in Neukölln sonst unvermeidliche Gewimmel der griechischen Gyrosbuden, indischen Reisebüros, türkischen Teestuben und Asia-Speditionen war verstummt, verschluckt vom Schnee.
    Fünf Minuten später stand er vor der anonymen Wohnung in der ersten Etage. Er schob die Klinge des Schraubenziehers in Höhe des Schlosses zwischen Tür und Türstock und holte Luft. Es musste schnell gehen. Da setzte das Hämmern wieder ein. Philip stieß den Atem erleichtert aus, eine Dunstwolke trieb vor seiner Nase, und er schlug mit dem schweren Ende des Schraubenschlüssels auf den Griff, um die Klinge in das Schließblech zu treiben.
    Nichts passierte. Er schlug ein zweites Mal zu. Noch immer wurde der Schraubenzieher vom Stahl des Schlosses blockiert. Er spürte, wie ihm trotz der Kälte der Schweiß ausbrach.
    Immer mit der Ruhe. Du hast das schon einmal getan. Vor einigen Monaten hatte er ein abbruchreifes Haus in Marzahn geknackt, um dort eine illegale Technoparty zu veranstalten. Obwohl sie für viel Geld Flyer und sogar Plakate hatten drucken lassen, waren nur 60 Leute aufgetaucht. Er verdrängte den Gedanken an den teuren Reinfall und konzentrierte sich darauf, wie er damals die Tür aufgebrochen hatte. Die Technik stimmte, dessen war er sich sicher.
    Er presste den Schraubenzieher fester in die Spalte zwischen Tür und Türstock, verstärkte seinen Druck, aber das fiel ihm schwer, weil er kaum noch Gefühl in den Fingern hatte. Er konzentrierte sich und führte einen weiteren Hammerschlag aus. Der Schraubenzieher drang zwei, drei Zentimeter tief in den Zwischenraum. Noch ein klein wenig. Er drückte den Griff zur Seite und hebelte damit den Riegel des Schlosses aus dem Schließblech. Die Tür sprang auf und öffnete sich nach innen. Der Schaden am Türrahmen fiel kaum auf.
    Schnell schlüpfte er in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Jetzt bist du auch noch ein Einbrecher.
    Es war kalt in der Wohnung, kälter als im Hausflur, als habe man die Habseligkeiten seiner Großmutter für ein neues Leben konservieren wollen. Aber das war natürlich Unsinn. Jemand war vor ihm in die Wohnung eingebrochen, und zwar über den Balkon. Die Balkontür war aus den Angeln gehoben worden; jetzt war der Blick frei auf einen Hinterhof, in dem das sich meterhoch türmende Sperrgut von einer dicken Schneeschicht überzogen war. Die Eindringlinge hatten leichtes Spiel gehabt.
    Die Wohnung bestand aus einer winzigen Diele, einem Wohnzimmer mit Kochnische und einem ebenso kleinen Schlafzimmer, gefüllt mit billigen Möbeln und staubigen Nippsachen. An den Decken wuchsen Fäulnisflecken, nicht erst seit wenigen Tagen. Selbst die eisige Luft, die der Wind ins Zimmer blies, konnte den strengen Schimmelgeruch nicht überdecken, auch nicht den Gestank nach Alter, Krankheit und Tod, der in den untapezierten Wänden nistete.
    Philip schüttelte sich vor Ekel und empfand gleichzeitig Mitleid. Die Wohnung seiner Großmutter war ein Zeugnis ihrer Armut.
    Warum hatte sie so gelebt? Wie war es dazu gekommen? Noch mehr Fragen.
    Das waren keine gewöhnlichen Einbrecher, stellte er fest, als er sich den Schaden näher besah. Wie bereits einige Tage zuvor in seiner Wohnung hatten die Eindringlinge ganze Arbeit geleistet. Philip war sicher, dass die Ähnlichkeit der Vorgehensweise kein Zufall war. Ebenso wenig wie der Umstand, dass die Pannierstraße nur drei Querstraßen vom Paul-Lincke-Ufer entfernt lag.
    Die Eindringlinge hatten das Zimmer durchwühlt und dabei nichts verschont. Der Sessel mit dem Rosenblütenmuster war seiner Federn beraubt worden; sie lagen wie herausgebrochene Rippen daneben. In der anderen Hälfte des Zimmers lagen ein Tisch und ein Stuhl umgekippt vor dem Heizkörper. Die beiden kleinen Schränke unweit der Kochnische waren ausgeräumt, Teller zerschmettert, die Töpfe demoliert und sämtliche Schubladen aus der Verschalung gerissen worden.
    Nichts war heil geblieben. Hatten die Diebe das Objekt ihrer Begierde entdeckt? Wenn ja, was war es? Ganz bestimmt war es ein weiteres Mosaiksteinchen auf seiner Suche nach Antworten.
    Mit einem Heulen fegte der Wind über die Balkonbrüstung, trieb Schnee vor sich her in die Wohnung. Die Exemplare des Berliner Kurier und der Bild, die an der Türschwelle lagen, waren bereits zu Eis

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