Schwester Lise
Gummirädern rollten durch die Flure, emsige, geübte Hände stellten Teller und Schüsseln auf Tabletts. Zwei Schwestern richteten das Essen für die Patienten der ersten Klasse. Diese erhielten blaugemustertes Geschirr und bedienten sich selbst aus kleinen Schüsselchen mit Deckeln und Schalen, während die Patienten der dritten Klasse ihre Teller fix und fertig hingestellt bekamen; zwei Scheiben Fischpudding, zwei Kartoffeln, ein Löffel Gemüse, zwei Löffel Soße - es ging alles schnell und automatisch.
Eirin brachte Tabletts nach Nummer drei und verteilte die Teller.
„Bitte, Frau Nilsen, hier kommt das Mittagessen. - Nun müssen Sie aber schön essen, um so schneller werden Sie gesund. - Bitte sehr, Fräulein Hakonsen, jetzt legen Sie mal das Strickzeug weg. Fräulein Sande, wachen Sie auf, das Essen ist da! - Aber natürlich gibt’s was Gutes, Frau Ligaard, schönen Fischpudding, ganz leicht verdaulich. - Nun, soll ich Ihnen mal helfen, sich aufzurichten, Frau Paulsen?“
Eirin kannte schon die Griffe. So klein und zierlich sie auch war, vermochte sie doch die dicke, schwere asthmatische Frau Paulsen im Bett aufzurichten, steckte ihr ein Kissen in den Rücken und gab ihr den Teller. Eirin lief weiter, die ganze Reihe hinunter. Sie hatte die zehn Betten auf der rechten Saalseite, Schwester Ilse die zehn zur linken.
Ilse hatte ihre Teller verteilt und eilte hinaus. Eirin war für einen Augenblick mit den zwanzig essenden Frauen allein.
Da hörte sie einen sonderbaren, japsenden Ton. Sie drehte sich um. Frau Paulsen lag da und rang nach Luft. Ihr Gesicht lief rot an, die Augen traten aus den Höhlen. Eirin stürzte zum Bett hin, kam aber zu spät, um den Teller zu retten. Fischpudding, Kartoffeln, Gemüse und Soße flossen über die Bettdecke, der Teller rutschte herunter und zerbrach mit lautem Klirren. Jetzt kam der Husten! Frau Paulsens Brust ging wie ein Blasebalg, sie wurde ganz blau im Gesicht. Eirin stand am Bett, ratlos und schlotternd vor Angst. Frau Paulsen könnte ersticken. In ihrer Not drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte weg, um Schwester Eldrid zu holen.
Die Stationsschwester saß in der Wachstube, streng und unnahbar. Schon ihr „Herein“, als Eirin an die Tür pochte, klang feindselig. Eirin nahm allen Mut zusammen und öffnete.
„Verzeihung, Schwester Eldrid“, stammelte sie atemlos, „ich muß Sie, glaube ich, bitten, gleich mal nach Nummer drei zu kommen - zu Frau Paulsen - “
„Jetzt - beim Mittagessen? Was ist denn los?“
„Ich - ich glaube, sie erstickt - “
Schwester Eldrid stand auf und ging mit. Eirin rannte voraus und stürzte nach Nummer drei hinein.
„Schwester Lise!“
Die Stimme der Stationsschwester war messerscharf. Eirin fuhr herum.
„Es macht einen schlechten Eindruck, wenn die Schülerinnen vor ihren Vorgesetzten durch die Tür gehen!“
„Verzeihung, Schwester Eldrid - ich habe nicht daran gedacht -ich hatte solche Angst um Frau Paulsen - “ Eirin trat zur Seite und ließ die Stationsschwester vorbei.
„Was ist das hier für eine Schweinerei, Schwester Lise?“ Schwester Eldrid zeigte auf Frau Paulsens Bett, wo die Reste des Mittagessens das Deckbett verunzierten. Die Patientin lag zurückgelehnt in ihren Kissen - ein wenig rot noch im Gesicht, sonst aber gleichmäßig und ruhig atmend.
„Weshalb haben Sie mich eigentlich hierhergelotst? Etwa um mir die Bescherung zu zeigen, die Sie hier angerichtet haben?“
„Aber Schwester Eldrid - sie hat so fürchterlich gehustet -, ich dachte, sie müßte ersticken, und ich wußte nicht - “ Eirin stammelte und errötete unter dem feindseligen Blick der Stationsschwester. „Ich dachte - “
„Gedacht haben Sie wohl kaum“, unterbrach Schwester Eldrid sie. „Wenn der Hustenanfall so gefährlich gewesen wäre, so wäre er wohl kaum in zwei Minuten vorüber gewesen. Sie wissen ja, daß Frau Paulsen Asthma hat, und Sie haben vielleicht, wenn Sie ausnahmsweise mal aufgepaßt haben sollten, gelernt, daß Asthma von Husten begleitet ist!“
Jetzt mischte sich die Patientin in die Unterhaltung.
„So huste ich seit zwanzig Jahren, Schwester Lise. Das braucht man nicht so schwer zu nehmen.“
„Schwester Lise ist anderer Meinung, Frau Paulsen“, entgegnete die Stationsschwester mit einer Freundlichkeit, daß Eirin sie hätte umbringen können. „Sie müssen wissen, Schwester Lise repräsentiert hier die Sachkenntnis.“ Und zu Eirin gewandt: „Sie sind wohl so freundlich und machen jetzt
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