Schwester Lise
Korridore. Das kurzgeschnittene, graumelierte Haar lag glatt um ihren Kopf und verlieh ihr ein fast männliches Aussehen. Der weiße Mantel, dem der männlichen Kollegen im Schnitt aufs Haar ähnlich, paßte zu ihr. Hinter ihr gingen der Assistenzarzt, die Stationsschwester und die diensttuenden Schwestern.
Dr. Claussens Visiten waren kürzer als die irgendeines anderen Arztes, aber dennoch hatte jede einzelne Patientin das Gefühl, gerade ihr Fall interessiere die Ärztin besonders und gerade an ihrem Bett sei sie heute am längsten stehengeblieben. Im übrigen hatten sie einen gehörigen Respekt vor ihr.
Dr. Claussen hatte für die eine ein ermunterndes Wort, eine strenge Ermahnung für eine andere; der junge Assistenzarzt bekam eine sarkastische Bemerkung und wurde blutrot, und die Stationsschwester ein paar kurze Fragen und Anweisungen.
Sie waren nach Nummer zwölf gekommen, in ein Einzelzimmer mit einer netten alten Dame von ungefähr siebzig Jahren. Sie war wirklich liebenswert, die alte Frau Hjelle, gütig und geduldig, freundlich und dankbar. Sie war Eirins Lieblingspatientin, und die Sympathie war gegenseitig.
„Keine hat so behutsame, gute Hände wie Sie, Schwester Lise“, lächelte Frau Hjelle, wenn Eirin sie im Bett hochhob, ihr die Fersen mit Spiritus abrieb und das Laken glattstrich.
Dr. Claussen lächelte, und Frau Hjelle lächelte zurück. Die sanften blauen Augen in dem blassen Gesicht mit den vielen kleinen Fältchen sahen so gut aus.
„Nun, Frau Hjelle, wie geht es?“
„Danke, Doktorchen - nicht schlecht - wenn ich nur etwas mehr schlafen könnte - “
„So, so, hapert es jetzt mit dem Nachtschlaf? Haben Sie so viele Gedanken im Kopf, daß Sie keine Zeit zum Schlafen haben?“
Frau Hjelle lächelte wieder, ein blasses kleines Lächeln, das von vielen geduldig ertragenen Schmerzen kündete.
„Ach, mit den Gedanken ist es nicht so arg, Frau Doktor - mein Kopf läßt mich wohl in Frieden. Mit dem Magen ist es schlimmer -heute nacht war es ziemlich böse. Ich glaube, ich habe heute nacht kein Auge zugetan, Frau Doktor - “
„Aber hat denn die Spritze gestern abend nicht geholfen?“
Frau Hjelle schaute die Ärztin fragend an. „Die Spritze? Ich habe gestern keine Spritze bekommen, Frau Doktor!“
„Sie haben keine -?“ Marit Claussen wandte sich zu der Stationsschwester um.
„Schwester Eldrid! Bitte erklären Sie mir das! Ich hatte eine Morphiumspritze verordnet, und die Patientin hat keine bekommen. Weshalb nicht?“
Schwester Eldrid war glühend rot. Die Zurechtweisung war ihr besonders peinlich, weil Schwester Lise, die sie selbst erst vor wenigen Tagen so gründlich heruntergeputzt hatte, zugegen war und sich jetzt daran ergötzen durfte, daß die gestrenge Vorgesetzte hier im Beisein aller getadelt wurde wie ein Schulmädchen! Sie geriet aus dem gewohnten Gleichgewicht, fühlte sich beschämt und gab der Ärztin schroff und undiplomatisch zur Antwort:
„Die Patientin klagte gestern abend nicht weiter, und da dachte ich, es sei das beste, sie mit dem starken Gift zu verschonen.“
Frau Dr. Claussens Stimme wurde scharf und drohend: „Wie lange machen Sie schon Krankenpflege, Schwester Eldrid?“
„Seit zwölf Jahren, Frau Doktor“, kam es kleinlaut zurück. „Und dann wissen Sie noch nicht, daß Sie Anweisungen nachzukommen haben?“
Schwester Eldrid biß sich auf die Lippe. Dr. Claussen ließ nicht locker. „Sie antworten mir nicht, Schwester Eldrid?“
„Es - es tut mir leid, Frau Doktor!“
Eirin zuckte zusammen. Das war ja beinahe unheimlich! Der Auftritt glich aufs Haar der Szene zwischen ihr und Schwester Eldrid, allerdings mit dem Unterschied, daß sich Frau Dr. Claussen, obwohl sie die gleichen Worte benutzte, nicht an der Verlegenheit der Stationsschwester weidete. Die Ärztin war zornig, und sie hatte Grund dazu. Schwester Eldrid aber gab vor, aufgebracht zu sein, weil sie ihre Freude daran hatte, einen anderen Menschen zu demütigen.
„Es tut Ihnen leid - soll ich das so auffassen, daß Sie um Entschuldigung bitten?“
„Ja.“
„Dazu haben Sie auch Veranlassung! Aber ich schlage vor, Sie entschuldigen sich bei Frau Hjelle. Sie ist es, die durch Ihr Versäumnis eine schlaflose Nacht gehabt hat.“
Dr. Claussens Blick war fest auf Schwester Eldrid gerichtet. Er glich dem Befehl, an Frau Hjelles Bett zu treten, die Hand hinzustrecken und um Entschuldigung zu bitten. Und so geschah es. Jetzt erst wandte Frau Dr. Claussen ihren Blick wieder ab.
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