Schwester Lise
hier sauber!“
Eirin bückte sich und begann die Scherben des zerbrochenen Tellers aufzusammeln. Die Tränen brannten hinter den Augenlidern. Aber noch war das Maß ihrer Demütigung nicht voll. „Schwester Lise!“
Eirin erhob sich und wandte sich Schwester Eldrid zu. „Offnen Sie die Tür!“
Eirin öffnete. Schwester Eldrid rauschte hinaus, drehte sich aber noch einmal um: „Folgen Sie mir in mein Zimmer!“
Eirin trippelte hinter der Stationsschwester her. Sie kamen zu der großen Glaspendeltür.
„Halten Sie die Tür auf, Schwester Lise!“ Eirin hielt abermals die Tür auf.
Die Stationsschwester betrat den Raum und setzte sich. Eirin blieb an der Tür stehen.
„Werden Sie jetzt künftig daran denken, daß Sie nach Ihren Vorgesetzten durch die Tür zu gehen haben?“ Eirin kochte vor Wut.
„Sie haben nicht geantwortet, Schwester Lise! Ich fragte Sie, ob Sie künftig daran denken werden, wer zuerst durch die Tür geht?“ Eirin öffnete den Mund, um zu antworten. Dieses Ungeheuer! Es ging auf Biegen oder Brechen. Sagte sie ihr jetzt ins Gesicht, was sie über sie dachte - dann war sie draußen. Sie riß sich zusammen. Eine Entlassung bedeutete, wieder eine Arbeit aufzugeben, die sie sich vorgenommen hatte! Sollte sie abermals etwas tun, dessen sie sich nachher schämen müßte?
Schwester Eldrid starrte sie unverwandt an. Es war nicht das erstemal, daß die herrschsüchtige Frau ein bebendes, wütendes, gekränktes junges Mädchen vor sich hatte. Es war nicht das erstemal, daß sie die Demütigung der anderen genoß. Mit unverhohlenem Interesse beobachtete sie die peinliche Verlegenheit ihres Opfers und ließ es noch eine Weile zappeln. Dann sprach sie langsam, mit sauersüßem Tonfall:
„Nun, Schwester Lise? Es ist sehr unhöflich, nicht zu antworten.“ Eirin schloß die Augen und schluckte. Sie mußte diese Behandlung über sich ergehen lassen. Vielleicht war diese Demütigung eine neue kleine Abzahlung auf die große Schuld, mit der sie vor sich selbst in der Kreide stand!
„Ja, Schwester Eldrid.“
„Sie haben sich mehrmals unpassend benommen. Heute schon wieder!“
„Es tut mir leid.“
Ein unmerkliches Lächeln huschte über Schwester Eldrids Gesicht. Sie kniff die Augen zusammen. Jetzt hatte sie die Kleine gleich da, wo sie sie haben wollte.
„Es tut Ihnen leid - soll ich das so auffassen, daß Sie um Entschuldigung bitten?“
Eirin fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Nicht jetzt, nur nicht jetzt losheulen! Schwester Eldrid durfte nicht sehen, daß sie weinte!
„Ja, Schwester Eldrid.“
Aber dann war es mit ihrer Fassung vorbei! Sie preßte die bebenden Lippen zusammen - doch jetzt stürzten die Tränen hervor und rollten über die Wangen.
Schwester Eldrid hatte nur darauf gewartet. Sie lehnte sich zufrieden im Sessel zurück. Jetzt war sie mit Schwester Lise fertig. Jetzt war endgültig nur noch ein kleiner, nasser Fleck von ihr übrig.
„Stehen Sie nicht da und heulen wie ein kleines Mädchen. Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, und benehmen Sie sich ein andermal vernünftiger!“
Eirin schlich hinaus. Wie ein geprügelter Hund kam sie sich vor.
Sie war rot verweint und stumm, als sie wieder in den Saal zurückkam und die Teller einsammelte. Frau Paulsens Bett war in Ordnung gebracht worden. Ilse hatte es schnell gemacht. Sie hatte Eirin zusammen mit der Stationsschwester in deren Zimmer verschwinden sehen und geahnt, was die Glocke geschlagen hatte.
Die Patienten sahen Schwester Lise verstohlen an, sie tat ihnen im Grunde leid. Aber sie genossen die Sensation. Es passiert ja nicht viel in einem Krankensaal!
An diesem Abend weinte sich Eirin in den Schlaf. Inga fragte nicht, was es gegeben hatte. Sie war gutherzig und anständig. Aber es lag ihr nicht, Teilnahme zu zeigen. Vielleicht hätte sie es trotzdem getan, wenn sie geahnt hätte, wie sehr Eirin eines Trostes bedurfte.
Sie bohrte das Gesicht in die Kissen. Tante Bertha! Wenn sie den ganzen Kummer in Tante Berthas Schoß hätte ausweinen können, so wie sie es als kleines Kind getan hatte. Oder - wenn Halfdan in der Nähe gewesen wäre. Wenn sein Arm sich um sie hätte legen können, wenn sie all das Böse an seiner Brust hätte vergessen können!
„Halfdan - Lieber... Lieber“, flüsterte Eirin in die Dunkelheit hinein. Sie schlief schließlich ein mit seinem Namen auf den Lippen.
12
Frau Dr. Claussen machte Visite.
Groß, kräftig und von breitem Körperbau, ging sie mit festen Schritten durch die
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