Schwester Lise
so viel davon, daß sie Herzklopfen bekam und sich elend fühlte - aber sie hielt sich wenigstens wach.
Nach einer Woche Nachtdienst war sie grün im Gesicht und hatte schwarze, tiefe Ringe unter den Augen. Sie hatte das Gefühl, als hingen an den Lidern kleine Bleigewichte.
In dieser Zeit tat sie ihren Dienst fast nur mechanisch. Kaum war sie von einem Gang zurückgekehrt, flammte schon wieder eine rote Lampe auf. Sie ergriff ein Becken und lief den endlos langen Korridor hinunter bis zu der Tür, über der die Lampe leuchtete. Feuchter, dumpfer Dunst von schlafenden Kranken, von verbundenen, gepinselten, zusammengeflickten und xeroformgepuderten Menschen schlug ihr entgegen. Da lag eine schlecht und wollte gern die Kissen aufgeschüttelt haben; eine andere wollte im Bett hochsitzen; die dritte hatte Durst; eine vierte klagte über plötzliche Schmerzen in der Schnittwunde; wieder eine war übernervös und wollte getröstet werden; einem Kind war übel, es mußte sich übergeben.
Automatisch tat sie, was verlangt wurde: schüttelte Kissen auf, gab zu trinken, legte Bettpfannen unter und nahm sie wieder weg, wusch die Kranke, wechselte Stecklaken, hielt das Speibecken. Sie sprach tröstende Worte, kleine beruhigende Redensarten, die so sinnlos waren, der Patientin aber dennoch Trotz spendeten.
Und dann kehrte sie zur Wachstube zurück oder zur Anrichte, wo der Kaffee siedete. Sie setzte sich hin, die Kaffeetasse neben sich und den Kopf gegen die weiße Wand gelehnt. Und die Gedanken jagten ihr durch den müden Kopf. Meist wanderten sie gen Norden -nicht immer. Es kam vor, daß sie sich auch mal in den Süden verirrten, daß sie ihr etwas von Palmen und blauem Mittelmeer vorgaukelten, ja, es konnte geschehen, wenn sie ihre Gedanken vor Übermüdung nicht mehr zügeln konnte, daß in ihrer Erinnerung ein Paar funkelnde Augen in einem braungebrannten Gesicht auftauchte.
Dann packte sie sich alsbald selbst beim Schopf und zwang sich, an Frostviken zu denken und an Halfdan.
Aber manchmal drang sie gar nicht ganz bis zu ihm vor. Denn schon in der Tür zum Sprechzimmer stand jemand anderes: eine junge, schöne Frau in Schwesterntracht; eine Frau mit klugen, wachen Augen und sanften und zugleich starken und gesunden Händen.
Eirin hatte sich eine ganz bestimmte Vorstellung von Schwester Vera zurechtgemacht. Und wenn sie sich dieser Vorstellung hingab, war sie bis an den Rand mit Minderwertigkeitskomplexen angefüllt. Schwester Vera war so tüchtig und so geschickt, so recht eine Hilfe, wie Halfdan sie suchte. Sie selbst dagegen -
Dann flammte die rote Lampe wieder auf. Sie warf einen Blick auf die Nummerntafel, griff nach einem Becken und trabte von dannen.
Mit der Zeit wurde sie auch mit den Komplexen fertig. Überhaupt wurde vieles besser.
Erstens gehörte sie jetzt nicht mehr zu der Gruppe der Jüngsten. Neue waren eingestellt worden, und Eirin mußte kürzlich eine kleine, unglückliche Zwanzigjährige trösten, die ihren ersten Zusammenstoß mit Schwester Eldrid erlebte. Eirin selbst war deren Zugriff jetzt entzogen. Sie arbeitete seit drei Monaten in der chirurgischen Abteilung, und die Stationsschwester dort war ein
Engel im Vergleich zu Schwester Eldrid. Außerdem hatte sie Nachtdienst und sah wenig von ihren Vorgesetzten.
Zum zweiten hatte sie endlich gelernt, am Tage zu schlafen. Zwar fiel ihr die Umstellung nicht leicht, als sie wieder mit dem Tagesdienst anfing. Denn nun war es so, daß sie nachts nicht schlafen konnte.
Aber dies alles hatte sie nun durchgestanden. Jetzt konnte sie schlafen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Tag oder Nacht, das war ihr einerlei. Wenn sie den Kopf auf das Kissen legte, schlief sie ein und schlief so lange, bis der Wecker rasselte.
Der Nachtdienst war im Grunde gar nicht mehr das schlechteste. Wenn sie morgens vom Dienst kam, pflegte sie einen kurzen Spaziergang zu machen, der ihre Wangen rosig färbte und ihr eine gesunde Müdigkeit verschaffte. Anschließend nahm sie eine Dusche, rollte den Vorhang herunter und ging in die Falle. Sie schlief bis gegen sechs Uhr nachmittags, machte noch einmal einen kleinen Spaziergang und war frisch, ausgeruht und gut aufgelegt, wenn der Dienst begann.
Einmal in dieser ganzen Zeit hatte sie einen Brief von Tante Bertha bekommen. Sie vertrat gerade für einige Tage die Sprechstundenhilfe des Chirurgen. Das traf sich gut; denn als sie antwortete, konnte sie mit reinem Gewissen schreiben: „Es ist so nett, wenn ich vom Büro
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