Schwester Lise
ganz zu Eirin um. „Wirklich krank? Jetzt werden Sie aber naseweis, finde ich! Bin ich vielleicht nicht wirklich krank?“
Eirin wurde ärgerlich. Sie war es leid, diesem verwöhnten Mädchen ständig nach der Pfeife zu tanzen.
„Oh - wir haben Kranke, mit denen steht es viel schlimmer als mit Ihnen. Im Saal drüben liegt zum Beispiel eine Fabrikarbeiterin -
„Danke, Ihre Fabrikarbeiterinnen interessieren mich nicht. Ich habe an meiner eigenen Krankheit wahrhaftig genug!“ Jetzt kochte Eirin über.
„Nun wohl, aber Sie können nicht erwarten, daß wir auch daran genug haben sollen. Wir haben, wie gesagt, Fälle, die gefährlicher sind als der Ihre, und hier interessieren wir uns mehr für das Wohl als für die soziale Stellung der Patienten. Wünschen Sie sonst noch etwas, Fräulein Schallberg?“
„Nein“, fauchte diese, „machen Sie, daß Sie rauskommen!“
„Mit Vergnügen!“ antwortete Eirin.
Als sie aus der Tür war, meldeten sich Bedenken. Sicher würde Fräulein Schallberg sich jetzt beschweren, und dann - uff, wenn sie bloß in ihrer Gegenwart keinen Rüffel bekam, wenn sie bloß das junge Ding nicht um Entschuldigung bitten mußte.
„Verflixt noch mal!“
Eirin warf den Kopf nach hinten und ging mit zusammengebissenen Zähnen zum Büro der Oberschwester.
Die Oberschwester war streng, aber gerecht, das war die allgemeine Ansicht. Sie flößte Respekt ein, aber die Schülerinnen hatten zugleich auch Vertrauen zu ihr. Sie konnte erbarmungslos sein, wenn es sich um Pflichtversäumnisse und Gedankenlosigkeit handelte, um Unpünktlichkeit oder Unehrlichkeit. Wurde aber an ihr gutes Herz appelliert, an die Vernunft oder gar an den Humor, so war sie aufgeschlossen und hilfsbereit. Man erzählte sich von ihr - und es klang fast wie eine Legende -, daß sie einmal freiwillig und in Gegenwart des Chefs, mehrerer Schwestern und im Beisein von zwanzig Patienten eine kleine, unglückliche Lernschwester um Entschuldigung gebeten habe, weil sie sich selbst geirrt und diese heruntergeputzt hatte wegen einer Sache, an der sie, wie sich herausstellte, unschuldig war.
O ja, die Oberschwester war famos.
„Verzeihung, Oberschwester, darf ich Sie drei Minuten stören?“ „Wenn es etwas Wichtiges ist?“
„Ich glaube, das entscheiden Sie am besten selbst, Oberschwester. Ich bin ausfallend gegen Fräulein Schallberg gewesen, und es tut mir nicht leid.“
Der Anflug eines Lächelns huschte über das Antlitz der Oberschwester.
„Ehrlichkeit ist eine Tugend, Schwester Lise. Fräulein Schallberg
- ach ja, ist das nicht die kleine, lockige Jungfer Naseweis mit der Appendizitis?“
„Ja, die auf Nummer sechs.“
„Richtig. Nun, was haben Sie denn angestellt?“
Eirin gab einen kurzen und wahrheitsgetreuen Bericht über den Wortwechsel.
Die Oberschwester hörte aufmerksam zu.
„Soso! Da sind Sie mit Ihrem Mund zu sehr vorweg gewesen, Schwester Lise!“
„Ja, vielleicht.“
„Aber ich stimme ganz mit Ihnen überein. Nur möchte ich Sie auf das nachdrücklichste davor warnen, daß sich dergleichen wiederholt. Sie dürfen nicht vergessen: Sie sind dazu angestellt, die Körper der Patienten zu pflegen, nicht ihre Seelen. Im übrigen verspreche ich Ihnen für dies eine Mal, daß Sie keine Unannehmlichkeiten deswegen bekommen werden. Und nun können Sie gehen.“
„Tausend Dank, Oberschwester!“
Eirin tanzte den Korridor hinunter. Das Krankenschwesterdasein bot wirklich allerlei Abwechslung, und es machte einfach Spaß, Untergebene zu sein, wenn man so nette Vorgesetzte hatte.
Sie war für den Rest des Tages so guter Laune, daß sie sich dabei ertappte, wie sie pfiff, während sie der dicken alten Frau Jensen das Becken wegnahm, und daß sie trällerte, während sie die stinkenden Mulltupfer wegräumte, die der Doktor benutzte, wenn er Berthi neu verband.
Am nächsten Tag begann der Nachtdienst, und sie sah Fräulein Schallberg nur selten, höchstens wenn sie ein- oder zweimal nachts läutete, weil sie sich allein nicht helfen konnte. Fräulein Schallberg starrte sie wutschnaubend an, und Eirin war dem Ersticken nahe, so lächerlich fand sie das Ganze. Ohne Frage war es nicht angenehm, sich helfen lassen zu müssen von einer, die man nicht mag, und besonders, wenn man ans Bett gefesselt und gezwungen ist, das Becken zu verlangen.
Sie vermutete, daß Fräulein Schallberg sich beschwert hatte, ohne Verständnis gefunden zu haben. Gott segne die Oberschwester!
Die Uhr ging auf halb zwölf. Wie es
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