Schwester Lise
erwachsener, verantwortungsbewußter Mensch geworden bin. Ich will auch nicht, daß sie erfährt, was ich hier durchzustehen habe, sonst bringt sie sich um und versucht mir zu helfen. Ich will ganz allein sein. Ich würde auch dir nichts erzählt haben, wenn nicht die Sache mit der Post wäre.“
„Dann danke ich dir, daß du mich dazu ausersehen hast“, lächelte Frau Lindberg. „Ich verspreche dir, daß ich dein Vertrauen nicht mißbrauchen werde!“
Liebe Tante Bertha!
Ich möchte Dich heute nur wissen lassen, daß, es mir gutgeht und daß ich wieder im Süden gelandet hin. Ich hin nicht lange in Trondheim gehlieben. Hier fand ich eine gute Stellung und bin gesund. Ich denke oft an Dich und Halfdan, aber ich kann nichts über das schreiben, was ich denke und fühle. Ich hoffe, es geht Euch gut, ich bin froh und dankbar, daß, Du bei ihm bleibst.
Du kannst Deine Briefe an Trau Lindberg senden. Ich soll Dich vielmals von ihr grüßen. Sie ist reizend zu mir. Sei nicht böse auf mich, Tantchen. Ich weiß, daß ich mich sonderbar benehme, aber es wird schon mit der Zeit besser werden. Ich kann nicht erwarten, daß mich einer versteht.
Laß es Dir gutgehen, Tante Bertha. Ich hab ’ Dich so lieb.
Deine Eirin
Mein liebes Kind!
Vielen Dank für den Brief. Es tat gut, Deine Schrift wiederzusehen. Ich freue mich sehr, daß Du bei Frau Lindberg wohnst. Da bist Du gut aufgehoben, und ich weiß, solange ich nichts höre, geht es Dir gut. Wenn Du irgendwelche Schwierigkeiten hast, bekomme ich Bescheid, versprichst Du mir das?
Wir wollen uns nicht bei dem aufhalten, was gewesen ist, mein Kind. Es nützt ja doch nichts. Aber ich verstehe, daß Du allein sein willst, und ich werde nach nichts fragen, solange ich weiß, daß Du gesund bist und es Dir gutgeht. Von Halfdan kann ich Dir keinen Gruß ausrichten, da ich ihm nicht sage, daß ich an Dich schreibe. Anscheinend wünschst Du ja keine Verbindung mit ihm. Ich sehe Halfdan nur wenig. Er hat viel zu tun. Aber jetzt in der hellen Zeit mit gutem Wetter und Sonne sind die Krankenbesuche nicht so anstrengend. Er war gestern in Norderpollen. Elvinas Junge hatte Kehlkopfdiphtherie, und Halfdan soll dort ein Meisterstück vollbracht haben, wenn ich Schwester Vera recht verstanden habe. Richtig! Du weißt ja nicht, daß Halfdan jetzt eine Sprechstundenhilfe hat. Sie ist wirklich ordentlich und tüchtig und eine große Hilfe für ihn. Sie pflegt ihn auf seinen Krankenbesuchen zu begleiten, und Du kannst mir glauben, sie ist voll des Lobes über ihn. Die Rettung des Kindes erscheint ihr wie ein Wunder. Ich verstehe ja nichts von der medizinischen Wissenschaft, aber es hörte sich selbst für mich erstaunlich an; sie hatten die Instrumente auf dem Küchenherd in Elvinas einziger Stube ausgekocht, und Halfdan hat den Jungen an
Ort und Stelle operiert. Er habe die Wahl gehabt, sofort zu operieren oder den Jungen sterben zu sehen, sagte Schwester Vera. Du siehst, uns geht es so gut, wie es uns gehen kann, wenn wir von dem leeren Platz absehen, den der kleine Vogel hinterlassen hat, der seiner Wege geflogen ist. Viele innige Gedanken wandern von dem kalten Frostviken zu Dir, wo Du auch seist und was Du auch tun magst. Gott segne Dich, mein Kind.
Deine alte Tante Bertha
Eirin nahm den Brief abends im Bett von neuem vor. Tante Bertha war ein Prachtkerl. Nicht ein einziger Vorwurf, nur liebevolles, einfaches Verständnis. Die gute Tante Bertha!
Es paßte ja ganz gut, daß sie vermuteten, sie wohne bei Frau Lindberg. Dieses Mißverständnis war nicht ihre Schuld. Und wozu sollte sie es richtigstellen?
Alles war jetzt so geregelt, wie sie es haben wollte. Warum aber war sie jetzt nicht erleichtert und zufrieden?
Sie las den Brief noch einmal durch.
„Du weißt ja noch nicht, daß Halfdan jetzt eine Sprechstundenhilfe hat.“ Nein, woher sollte sie das wissen? Und obendrein noch eine mit dem Namen Vera. Jung natürlich, sonst würde sie ihn wohl nicht auf seinen strapaziösen Fahrten begleiten können; tüchtige Krankenschwester, sie hieß ja auch „Schwester“, nicht „Fräulein“, also war sie regelrecht ausgebildet. - Sie konnte bei einer Krupp-Operation assistieren, die in hohem Maße Tüchtigkeit und Geistesgegenwart erforderte. Vera - Vera! Schon dieser Name! Wenn sie Vera hieß, hatte sie wahrscheinlich kupferbraunes, flammendes Haar und die wunderbare Haut, die zu dieser Haarfarbe gehörte! - Eirin warf einen Blick in den Spiegel. Uh, wie blaß sie geworden war, und
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