Schwester Lise
und pflichttreu. Aber sie blieb verschlossen, und es gab Patienten, die sie für gefühlsarm und verständnislos hielten. Sie hätten nur wissen sollen, was alles sich hinter dem sachlichen, berufsmäßigen Gebaren verbarg.
Und dann Eirin, die kleine, schwarzlockige Schwester Lise, die Hübscheste aus dem Kleeblatt. Reizend und freundlich war sie auch
- wenn sie nur nicht immer so aussähe, als ob sie mit ihren Gedanken weit, weit fort wäre und als müsse sie sich gewaltig zusammenreißen, um sich darauf zu besinnen, wo sie eigentlich war. Die Arbeit tat sie schnell und mechanisch. Je mehr sie sich daran gewöhnte, desto länger konnten die Gedanken ihre eigenen, heimlichen Wege gehen.
Von Tante Bertha kam ein Brief, der ihr das Unhaltbare der Situation vor Augen führte. Den Verwandten gegenüber war es eben doch fast unmöglich, sich längere Zeit verborgen zu halten. Aber Eirin ließ sich nicht beirren. Sie beschloß, sich jemandem anzuvertrauen, und sei es, um sich eine bessere Postadresse zu verschaffen. Der Weg über Cillys Anschrift in Trondheim war auf die Dauer zu umständlich.
So machte sie sich denn eines Tages auf den Weg zu Cillys Mutter, der verwitweten Frau Lindberg. Sie kannte Frau Lindberg, seit sie in die Schule ging.
Frau Lindberg war erfreut und überrascht, sie zu sehen. Und als Eirin erst auf ihrem gewohnten Lieblingsplatz saß, auf dem Hocker am Ofen, und, wie in alter Zeit, eine Tasse mit einem Eidotter und Zucker in der Hand hatte, da begann sie zu sprechen.
Sie berichtete ausführlich von ihrem Dasein in Frostviken. Sie verschwieg nichts, schonte sich selbst nicht; sie schilderte die Arbeit und die Plackerei; sie erzählte von der Dunkelheit und von dem quälenden Druck, den diese auf sie ausgeübt hatte, vom Heiligabend, von der bösen Stimmung, die die ganze Zeit hinterher geherrscht hatte. Und dann schluckte sie ein paarmal, riß sich zusammen und sprach von der Flucht aus Frostviken.
Frau Lindberg hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Erst als Eirin bei ihrem Aufenthalt bei Cilly in Trondheim angelangt war, sprach Frau Lindberg:
„Und jetzt, Eirin? Was tust du jetzt?“
„Ich bin Krankenschwester oder vielmehr Lernschwester. Aber das weiß Halfdan nicht und Tante Bertha auch nicht - keiner weiß es, außer dir. Und du mußt so gut sein und es ganz für dich behalten. Denn du begreifst -,“ Eirin holte tief Atem und erklärte weiter: daß sie untertauchen wolle, unauffindbar für jedermann, und daß sie arbeiten wolle, um ihre Selbstachtung wiederzuerlangen, und auch, damit Halfdan Respekt vor ihr bekäme.
Frau Lindberg saß ein Weilchen schweigend da. Dann erhob sie sich und strich Eirin übers Haar.
„Ich verstehe dich, Eirin. Ich finde, du bist ein tüchtiges Mädchen. Aber nun sag mir, was ich für dich tun kann. Denn irgend etwas gibt es, soviel ich verstanden habe, womit ich dir helfen soll.“ „Ja - ich wollte dich fragen, ob ich vielleicht deine Adresse angeben darf, so daß Tante Bertha hierher an mich schreiben kann, und ob du dann so gut sein und die Briefe in einen neuen Umschlag stecken und sie an Schwester Lise adressieren würdest, denn im Krankenhaus weiß niemand, daß ich eigentlich Eirin heiße, verstehst du? Ich gebe dir Umschläge und Briefmarken, dann ist es für dich keine so große Mühe. Würdest du das tun?“
„Selbstredend und mit Freuden, Kindchen!“
„Und dann, Frau Lindberg, kannst du nicht - ich meine, falls Tante Bertha an dich schreiben und dich nach mir ausfragen sollte, denn genau das sähe ihr ähnlich -, kannst du dann nicht irgendwas antworten, daß ich eine gute Stellung hätte und daß es mir gutgehe?“ „Doch, sei ganz getrost, ich werde mich sehr diplomatisch ausdrücken. Aber sag mir, Eirin, warum soll Tante Bertha nicht wissen, wo du bist und was du treibst? Daß du es vor deinem Verlobten geheimhalten willst, das verstehe ich, aber Tante Bertha -?“
„Du weißt doch, sie führt ihm den Haushalt. Erstens kann es sein, daß sie sich verhaspelt. Bedenke, die beiden sind ganz aufeinander angewiesen da oben. Aber dann ist da noch etwas: Ich schäme mich vor Tante Bertha fast genauso wie vor Halfdan. Sie - sie - “, Eirin fing an zu stottern und wurde dunkelrot, fuhr aber trotzdem tapfer fort, „sie hat mir an dem Heiligabend eine Ohrfeige gegeben. Ich hatte sie verdient. Tante Bertha gegenüber fühle ich mich wie ein ungezogenes kleines Gör, weißt du, und ich will ihr nicht unter die Augen treten, bis ich nicht ein
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