Schwester Lise
Flickerei gesehen! Doch, vor längerer Zeit einmal, bei einem Kollegen von mir, der stickte und kunststopfte das Gesicht eines kleinen Mädels -, ich hab’ das Kind später wiedergesehen, und es war fast nicht zu merken, daß ihr mal was gefehlt hat. Ja, daß der Kerl nicht bei der Chirurgie geblieben ist, kann ich ihm nie verzeihen!“
„Wieso? Was hat er denn gemacht?“ fragte Eirin. Sie wählte ein Stück Hefekuchen mit Zuckerguß und hörte nur mit halbem Ohr zu, was Dr. Gard erzählte. Sie kannte sein Geplapper und hatte schon unzählige Geschichten „von einem Kollegen von mir“ oder „einem Freund von mir“ über sich ergehen lassen.
„Was er gemacht hat? Na ja, er nahm einen Koffer in die eine Hand und ein Mädel an die andere und reiste weit weg, bis ans Ende der Welt ungefähr, genauer ausgedrückt bis nach Frostviken.“
Eirin ließ das Stück Kuchen fallen. Sie starrte Dr. Gard an, der genießerisch seinen Kaffee schlürfte und dabei weiterschwatzte, ohne sie anzusehen.
„Das war nämlich Liebe, müssen Sie wissen! Er war so verschossen in das Mädel, daß er sich, so schnell es ging, einen Lebensunterhalt verschaffen mußte, weil er mit der Kunststickerei als Assistent bei Dr. Brattholm nicht genug verdiente. So zog er denn nach Frostviken und wurde Kreisarzt. Dort hilft er jetzt den Fischerkindern in diese Welt und ihren Vätern aus ihr raus, kappt Mandeln, pinselt Hälse und schneidet eitrige Finger auf - puh, was für ein Leben!“
„Vielleicht ist er gern dort“, sagte Eirin. Sie sprach ganz leise, denn sie verließ sich nicht auf ihre Stimme.
„Vielleicht - vielleicht auch nicht-, ach nein, bestimmt nicht! Hoek war zum Chirurgen geboren - oder zum Bakteriologen, der Kerl hatte tolle Chancen. Und dann geht er hin und begräbt sich in einem fernen Nest um eines Mädels willen - nein, das verzeihe ich dem guten Hoek nie!“
„Lohnte es sich denn nicht um das Mädel?“ fragte Eirin vorsichtig. Sie zwang einen Schluck Kaffee hinunter, um ruhig zu bleiben.
„Was heißt da lohnte! Es gibt kein Frauenzimmer, um das sich ein solches Opfer lohnte. Schon daß sie es überhaupt annahm, beweist, daß sie es nicht wert war. War das nicht prachtvoll ausgedrückt, was? Es hätte aus den französischen Aphorismen’ oder so was ähnlichem sein können. Das Mädel gehörte zu der Sorte, von der vierzehn aufs Dutzend gehen, hübsch und verliebt und so weiter, vermute ich wenigstens. Gesehen habe ich sie nie. Sie fand es wohl schick, so angehimmelt und geliebt zu werden und dann später Frau Doktor zu sein. Tja, ich kann mir denken, die hat ein ziemlich dummes Gesicht gemacht, als sie in das finstere Frostviken kam und kein elektrisches Licht anknipsen konnte - stellen Sie sich vor: so ein Dämchen aus Oslo mit Lippenstift, hohen Absätzen und Tanz im Bristol! Ich könnte mir denken, die hat das längst satt, und nun sitzt er da und pikst vereiterte Finger auf und denkt an den pompösen Operationssaal bei Brattholm und all die feinen Instrumente.“
Eirins Herz schlug zum Zerspringen. Sie wollte laut hinausschreien, daß Gard im Irrtum sei: sie habe nie einen Lippenstift benutzt und selten hohe Absätze getragen, und sie sei keineswegs so eine, von denen vierzehn aufs Dutzend gehen, und sie könne sehr gut - nein, nein - Gard hatte ja recht! Sie hatte es ja in Frostviken nicht ausgehalten. Halfdan hatte tatsächlich dieses Opfer ganz vergebens gebracht. Sie hatte ihn im Stich gelassen - sie war ja genau so ein kleines Oslomädchen mit einem leeren Herzen, wie Gard es eben erbarmungslos geschildert hatte.
„Sie sind so blaß, Schwester Lise. Haben Sie etwa zuviel Kaffee getrunken?“
„Aber gar nicht. Mir geht es sehr gut. Herrje, da läutet es!“
Die rote Lampe leuchtete auf, und Eirin war froh, einen Vorwand zu haben rauszulaufen, selbst wenn es die Nummer sechs war, die jetzt auf der Tafel prangte. Fräulein Schallberg war nicht gerade ihre Lieblingspatientin. Aber in diesem Augenblick hätte sie mit Wonne jede Gelegenheit benutzt, um zu verschwinden, und wenn sie eine Stunde lang dastehen und sich von Schwester Eldrid den Buckel vollschimpfen lassen sollte.
Während sie Fräulein Schallberg behilflich war, beschloß sie, Gard zu fragen, ob er etwas von seinem Kollegen in Frostviken gehört habe. Als sie aber in die Anrichte zurückkam, war Gard gegangen. Auf dem Pappteller lag noch ein Stück Kuchen und daneben ein Zettel:
„Das letzte Stück ist für Sie, Schwester Lise. Schönen
Weitere Kostenlose Bücher