Schwester Lise
Dank für den Kaffee. Sollte es nötig sein, kann Frau Tvedt auf Nummer fünfzehn ein Phanodorm bekommen. Gute Nacht!“
Eirin setzte sich still hin. Sie hielt die Hände im Schoß und saß kerzengerade. Sie weinte nicht, war nicht verzweifelt, hatte kein Herzklopfen. Sie dachte nur an Halfdan.
15
„Erstaunlich, wie die Zeit rennt“, sagte Eirin und gähnte. Sie saß auf der Bettkante und streifte die Schuhe ab. „Aber ich bin trotz allem froh, daß ich wieder in der Medizinischen bin. Die letzten Tage in der Epidemie waren fürchterlich: Der Oberarzt, der Assistent, die Stationsschwester und auch ich führten einen Ringkampf mit dem Tode. Der Junge lag ja auf meinem Gang, du ahnst nicht, wie deprimierend das war. Schmerzen hatte er auch, der Ärmste. Und dann die letzte Nacht, als die Mutter kam und die ganze Zeit bei ihm saß und der Junge sie nur immer anschaute und nicht reden konnte. Ihr Mann ist auf See, und sie hatte nur dies eine Kind - ach, Herrgott, wir werden wohl nie so hartgesotten, daß so etwas keinen Eindruck mehr auf uns machte. Oder was meinst du?“
Eirin stützte den Kopf in die Hände und starrte vor sich hin.
„Es ist doch nicht das erste Mal, daß du einen Patienten sterben siehst, Lise?“
Schwester Inga sprach ruhig und leise. Sie stand selbst heute an einem Sterbebett. Aber das war ein alter Mann gewesen - nicht ein kleiner, blondhaariger Junge von vier Jahren!
„Nein, aber es ist so entsetzlich, wenn es ein kleines Kind ist. Gewiß, für uns ist es ja immer nur ein Fall, nur eine Nummer in der Reihe; aber jedesmal stürzt doch für einige Menschen eine ganze Welt zusammen. Wir räumen die Trümmer beiseite und traben weiter - das müssen wir ja.“
„Ja“, sagte Inga, „das müssen wir.“
„So etwas macht nachdenklich, Inga. Der Junge starb in meinen Armen. Hinterher weinte die Mutter an meiner Schulter. Ich mußte sie festhalten, sonst wäre sie in sich zusammengeknickt. Und denke dir, jetzt kann ich mich kaum noch darauf besinnen, wie sie aussah. In einem Jahr habe ich wohl das Ganze vergessen. Sie aber wird mich nie vergessen. Sie wird sich ihr ganzes Leben lang mit mir verbunden fühlen, weil wir diese Erinnerung gemeinsam haben. Sie wird mein Gesicht und meinen Namen und das Datum und die Uhrzeit behalten. Ist das nicht sonderbar, daß es für den einen so unendlich viel bedeutet und für den anderen nicht mehr ist als eine ganz alltägliche Begebenheit?“
Inga schaute ratlos zu Eirin hinüber. Ihr gesunder, praktischer, nüchterner Verstand kam da nicht mehr ganz mit.
„Ich glaube, du bist übermüdet, Lise“, sagte sie schließlich.
„Ja“, murmelte Eirin und strich sich über die Stirn. „Ich bin müde.“
Sie zog sich still aus und legte sich zu Bett.
So stand Eirin denn wieder unter Schwester Eldrids Tyrannei und Dr. Claussens wachen, klugen Augen. Fast heimelten sie diese Räume und Korridore an, in denen sie sich in den ersten Wochen geplagt und geschunden hatte, als ihre Füße vor Müdigkeit gebrannt hatten, ihr Rücken geschmerzt hatte, und in denen sie so bittere Tränen vergossen hatte.
Aber jetzt war alles ganz anders. Jetzt hörte sie sich Schwester Eldrids Gardinenpredigten ruhig an, zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus. Die Müdigkeit war wie weggeblasen. Eirin war zwar dünn, aber zäh und kräftig, und genau besehen fühlte sie sich frischer als je zuvor in ihrem Leben.
Sie stand jetzt seit über einem Jahr in der Krankenpflege. Wieder war eine neue Gruppe angetreten, wieder mußte sie das eine oder andere verschüchterte, überanstrengte, weinende Häufchen Elend trösten, das mit himmelblauem Idealismus diesen Beruf erwählt und nicht geahnt hatte, daß er zunächst vorzugsweise aus Fußbodenwischen, Beckenausgießen und Nasenstübern bestand.
Aber das Unglück schien sie in der medizinischen Abteilung zu verfolgen.
Es klingelte auf Nummer achtundzwanzig. Dort lag eine jüngere, verheiratete Frau in einem Einbettzimmer, blaß und mit einem leidenden Gesicht. Sie war zur Beobachtung hier, weil sie über Schmerzen im Rücken und in der Herzgegend klagte. Man hatte Blutproben und Urinproben gemacht, den Blutdruck gemessen, aber die Ärzte konnten nichts finden.
Eirin fand, daß Frau Dr. Claussen und der Assistent gegen dies arme, blasse Menschenkind auf Nummer achtundzwanzig zu gleichgültig waren.
Sooft sie ein paar Minuten erübrigen konnte, nahm sie sich daher Frau Erviks ein wenig an. Diese war rührend dankbar. Wenn sie nur
Weitere Kostenlose Bücher