Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
werden. Mit Schweißperlen auf der Stirn liegt er bleich in seinem Bett und ringt sich zur Begrüßung ein Lächeln ab. Den Vormittag ist er einigermaßen gut über die Runden gekommen, ist aber auch zu nichts anderem in der Lage, als sich kurz an die Bettkante zu setzen, wobei er nach wenigen Minuten schon völlig erschöpft ist. Ich werde für eine ruhige Grundstimmung im Zimmer zu sorgen haben, soweit das machbar ist, es kann noch stressig genug werden. Vorsichtshalber erkundige ich mich, wie viele Blutkonserven für Herrn Petersen vorrätig sind.
Mein Schichtbeginn verläuft geordnet, und ich gucke in Ruhe die Kurven durch, kontrolliere die Spritzenpumpen, die Medikamente in einer fest eingestellten und berechneten Geschwindigkeit in meine Patientin hineingeben, und wende mich dann Herrn Petersen zu, der matt in seinem Bett liegt und ängstlich wirkt. «Ich hab so eine Angst, dass ich operiert werden muss», sagt er leise. Er ist kreidebleich und hat riesige Ränder unter den Augen. Seit den späten Abendstunden des gestrigen Tages musste er sich nicht mehr übergeben, was vielleicht dafür spricht, dass man ihm diese OP ersparen könnte. Dass ihm der Konjunktiv nicht unbedingt weiterhilft, ist mir durchaus klar, ich weiß aber im Moment auch nicht so recht, wie ich ihn trösten soll. Er möchte versuchen zu schlafen und hofft, dass vielleicht ein bisschen Ruhe in seinem Kopf einkehrt. Ich sage ihm, dass ich immer in der Nähe bin und er sich jederzeit melden soll, falls es ihm nicht gutgeht. Dann stelle ich die Außenjalousie so ein, dass ihm die Sonne nicht direkt ins Gesicht scheint, und er hebt dankend die Hand.
Ich gucke mal, was in der Nachbarschaft so los ist, und sehe, dass der Giftzwerg schon alle Hände voll zu tun hat: der Mann, der den Inhalt seiner Urinflasche mit einer Fanta verwechselt hat, ist gerade aus dem Bett gestiegen, mit allen Kabeln und Zuleitungen. Man könnte darauf Bass spielen, so straff sind sie alle gespannt.
Der Giftzwerg grinst, als ich um die Ecke gucke: «Du kommst gerade richtig, wir müssen Herrn Recker hier mal in den Sessel helfen.» Ein guter Einfall, den Bewegungsdrang des alten Herren gleich dafür zu nutzen, ihn außerhalb des Bettes zu beschäftigen und ein wenig Normalität einziehen zu lassen, denn im Sessel sitzend könnte er die Zeitung durchblättern und seine besorgten Angehörigen überraschen, die jeden Moment zu Besuch kommen werden. Angetan mit Brille und seinen Hausschuhen wirkt er doch wesentlich vitaler. Auch wird ihn die Bewegung ein wenig anstrengen, um dorthin zu gelangen, was wiederum die Chance erhöht, dass er später müde ist, schläft und nicht ausreißt – oder erst später, wenn wir schon längst zu Hause sind. Der Giftzwerg erklärt Herrn Recker also, dass er in diesem gemütlichen Sessel, der bereits neben dem Bett steht, Platz nehmen darf, was aber auch heißt, dass er jetzt mitmachen muss. Das gelingt ihm leider so gut wie gar nicht, obwohl wir ihm Schritt für Schritt erklären, worauf es nun ankommt: aufstehen und die Knie erst mal richtig durchdrücken. Doch schon die erste Anweisung versteht er falsch, er denkt, er solle Kniebeugen machen und geht bedrohlich tief in die Hocke, so dass er fast auf Augenhöhe mit dem Giftzwerg ist. Wir schaffen es gerade noch, ihn wieder aufzurichten, und wir müssen kichern. Der Giftzwerg ächzt, Herr Recker ist schwer. Nun muss er eine kleine Drehung machen, um sich auf den Sessel setzen zu können. Der hat enorme Ausmaße, ist bezogen mit abwaschbarem Lederimitat und kann mittels einer Fernbedienung sogar in verschiedene Positionen gebracht werden. Für Herrn Recker ist es eine große Herausforderung, sich auf die geforderte Drehung zu konzentrieren. Vom Kraftaufwand her schafft er es allemal, aber die Koordination schlägt ihm doch das eine oder andere Schnippchen, und so schieben wir ihn mehr in die Richtung, in die wir ihn haben wollen. Endlich sitzt er auf diesem Rehabilitations-Thron und guckt uns zufrieden an. Dann legt er die Arme auf die Armlehnen, ruckelt prüfend daran und befindet: «Das ist ja ein dolles Ding!» und lächelt. Der Giftzwerg wischt sich die Schweißperlen von der Stirn: «Aber nicht wieder alleine aufstehen, okay?» Herr Recker nickt mit einem gnädigen Gesichtsausdruck und sagt: «Danke, die Damen!»
Unsere Hoffnung ruht nun auf der eingeläuteten Besuchszeit, denn es ist eine große Erleichterung, wenn die Angehörigen da sind und ihre Leute beschäftigen und von
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